Wenn wir das Tempo beibehalten, werden wir zwischen sieben und acht Uhr morgens (UTC) die Isla Aves erreichen, jenes winzige Eiland, das genau auf unser Kurslinie liegt. Das ist rund 2-2,5 Stunden vor Sonnenaufgang. Ich hoffe, wir sehen die Insel am Radar, habe diesbezüglich aber so meine Zweifel, da sich die Landmasse zumindest laut Karte kaum über die Wasseroberfläche erheben dürfte. Ich habe mir jedenfalls schon alle möglichen Wecker und Alarme gestellt.
Um 0600 UTC schlägt das Radar Alarm. Auf der Insel ist offenbar ein Radarreflektor angebracht, und wenig später sehe ich auch ein weißes Leuchtfeuer, das nicht in der Karte eingezeichnet ist. Da der Wind wieder ein wenig aufgefrischt hat, mache ich den Motor aus. Wir werden das Eiland in einem Abstand von 3 Meilen passieren und haben dann noch ca. 325 Meilen vor uns. Das GPS errechnet bei unserer jetzigen Geschwindigkeit 56 – 59 Stunden, das wäre eine ETA am Donnerstag Nachmittag.
Der Wind ist nun seit einigen Sunden mit 3Bft + recht gut, weht eher aus Nordost, wir machen konstant über 6 Knoten. Ich habe gerade nochmal die Temperaturanzeige gecheckt. 27,4 Grad, aber bei dem Wind fühlt er sich wirklich frisch an. Es ist mittlerweile 1030 UTC und die Sonne zeichnet sich schemenhaft als feuerroter Ball hinter dem Wolkenband ab, das hinter uns liegt. Bis Punta Cana sind es noch zwei weitere Längengrade, die wir nach Westen müssen. Der Sonnenaufgang wird sich also nochmal ein ganzes Stück weit nach hinten verschieben, ich schätze eine knappe halbe Stunde. Das wäre dann 0700 Lokalzeit.
Aba Lewits Tod beschäftigt mich. Wir kannten uns nur 3 kurze Jahre, aber intensive Jahre. Wir wussten, dass er am Ende seines außergewöhnlichen Lebens angekommen war, wir wußten, dass er schon krank war und wir wußten, dass er sterben würde. Es war ein Frage der Zeit. Und doch hatten wir insgeheim auf ein Wunder gehofft. Jeden Tag sind wir uns am Schneidetisch begegnet, jedes Wort habe ich viele Male gehört, jede Geste, jeden Blick. Jedes Schweigen. Und das Funkeln in seinen Augen.
Es ist kein Zufall, dass er knapp nachdem der Kinofilm und die Serie fertiggestellt sind. Wenige Tage, nachdem die Mischung abgeschlossen und die Farbkorrektur abgenommen ist.
Nachdem wir im Februar von der Atlantiküberquerung zurückgekommen waren, haben wir Aba Lewit im Spital besucht. Er hatte wieder mal Wasser in der Lunge und war für einige Tage stationär aufgenommen. Kathi und seine Tochter Renate waren kurz aus dem Zimmer gegangen. Er sah mich eindringlich an. Wie es mit den Filmen stünde, wollte er wissen. Nachdem ich ihm Auskunft erteilt hatte, nickte er zufrieden. Als wir dann im Juni die Kopiekontrolle des Kinofilms machten, konnte er bereits nicht mehr kommen. Sein Immunsystem war zu schwach und das Risiko einer Infektion zu groß. Bei unserem letzten Besuch in seiner Wohnung in der Praterstraße, wir waren zum Essen eingeladen, saß er nicht mehr mit uns am Tisch. Er trug eines dieser durchsichtigen Visiere und verfolgte die Unterhaltung von einem Stuhl aus, der einige Meter entfernt in der Ecke des Zimmers stand.
Sein Tod ist ein großes Ereignis in meinem Leben, beendet meine Arbeit an „The Last Dialogue“. Es ist das Ende eines Lebensabschnittes und der Übergang in einen anderen, von dem ich noch so gar nichts weiß. Warum hat mich das Leben zu ihm geführt? Und warum setzte er sich mit mir hin, um mir seine Geschichte zu erzählen? In dieser Ausführlichkeit? Aba Lewit hat keine Enkelkinder. Sein Überleben war ein Wunder, das seiner Frau ein noch größeres. Er hat mir seine Geschichte vererbt, damit ich sie weitererzähle. Durch die Filme bleibt sie erhalten. Aber darüber hinaus hat er versucht, mir etwas mitzuteilen. Ich hoffe, ich habe es verstanden.
Heute ist Abgabe der 5 Folgen, die der BR gekauft hat. Aba Lewits Folge ist natürlich dabei. Hoffentlich klappt alles, aber Esther hat das alles super im Griff. Bin schon gespannt, wann die Folgen gesendet werden.
Nach einigen Stunden besten Winds und flotter Fahrt, sind wir nun wieder zum Motorsegeln übergegangen, um das Tempo zu halten. Stabilisieren sollen sich die Winde laut Vorhersage ja frühestens heute Abend. Was es in den Morgenstunden frisch war, ist es nun wieder richtig heiß.
Hinter einem Wolkenband nimmt der Wind schließlich dieses Quäntchen zu, das wir brauchen, um den Motor abstellen zu können. Erste Funksprüche von der US Coastguard treffen bruchstückhaft bei uns ein. Anna sitzt im Cockpit und zeichnet – das erste Mal auf dieser Reise. Die Sonne gleitet in wunderschönen Farben ins Meer, leise Musik, ich werfe meine Seele ins Meer und schleppe sie in unserem Kielwasser.
Zuerst sehen wir den eckigen Umriss gegen das letzte Licht am Horizont, bald darauf schlägt das Radar an. Wir haben eine stehende Peilung zu einem riesigen Tanker. In einer Entfernung von 6 Seemeilen nehme ich Kontakt zum Kapitän auf und frage seinen Kurs und seine Geschwindigkeit ab. Wir geben durch, dass wir seine Kurslinie in seinem Heck kreuzen werden, also auf gut Deutsch auf unseren Vorrang verzichten. Wir sind doch einiges beweglicher und in den leichten, konstanten Winden ist das für uns keine große Sache. Trotzdem und aus Neugier lege ich seine Kurslinie an die Position: Der Tanker kommt aus Venezuela, sein Ziel ist Europa. Obwohl die Kurslinie auf Nordspanien deutet, vermute ich, dass er eher nach Rotterdam fährt und die entsprechende Kursänderung erst bei den Azoren vornimmt, um schwerer See auszuweichen, wie sie in dieser Jahreszeit im Nordatlantik zwischen Neufundland und Irland häufig zu finden ist.
Der mächtige Tanker passier eine Meile von uns und verschwindet stumm in der Dunkelheit des Ostens.