Santa Cruz de La Palma – Mindelo, Sao Vicente | Teil I
18. Jänner 2020
1400 UTC
Wir sind seit 4 Stunden unterwegs und sind nun in den NE Wind eingetaucht, der mit 4 Windstärken weht. Das Vorsegel ist erstmals ausgebaumt, das Großsegel voll und mit dem berüchtigten Bullenstander gesichert. Mit 5 – 6 Knoten über Grund verschwindet La Palma langsam in einer Wolke, zu unserer Linken sind die Umrisse von La Gomera und Teneriffa zu sehen, während sich El Hierro schemenhaft im Dunst des Gegenlichts abzuzeichnen beginnt.
Anna schläft eine Runde, ihre Wache beginnt ja um 1800. Wir laufen Mindelo im Moment nicht genau an, müssen einen Kurs steuern, der 15° östlicher liegt, damit das Schiff ruhig liegt.
Nachtwache | Imperatrix
Um die Größe des Habsburger Reiches »Österreich – Ungarn« zu beschreiben, fällt mir kein besseres Bild ein als jenes der »Imperatrix«. Österreich war natürlich auch eine Seemacht, weite Teile des heutige Kroatien gehörten zur Monarchie, wir entsandten Expeditionen zum Nordpol oder schickten die »Novara« rund um die Welt.
Eine Seemacht beschreibt sich aber nicht nur durch ihre militärische Stärke, sondern auch durch jene der Handelsmarine. Die Imperatrix war ein Fährschiff der Österreichischen Lloyd, das regelmäßig zwischen Triest und Bombay verkehrte und die Strecke in nur 18 Tagen zurücklegte. 140 Mann Besatzung für rund 20 Passagiere, von denen immer einige nicht bezahlen mussten oder konnten. Das ist Weltmacht. Das ist Größe! Das ist wahre Dekadenz.
Als die Imperatrix durch einen Fehler des Kapitäns in seichtem Wasser bei Elafonisi im Süden von Kreta Leck schlägt und zu sinken beginnt, schicken die russische, französische und italienische Marine Kriegsschiffe zu Hilfe, die in Chania vor Anker liegen. Die halbe Welt eilte zu Hilfe, wenn das Fährschiff einer Großmacht in Bedrängnis geriet. In dem schweren Wetter müssen Passagiere und Mannschaft aber trotzdem einige Tage an Bord ausharren und können erst geborgen werden, als sich die Mönche des Klosters Chrysoskalitissa um ihre Rettung bemühen. Eine kleinere Gruppe der Mannschaft, die sich ohne Anordnung des Kapitäns in ein Rettungsboot begeben hatte, kommt ums Leben: Das Rettungsboot kentert in der schweren See.
Der Untergang der Österreichischen Monarchie hatte viele Gründe. Der Untergang ihrer Kriegsmarine ist zweifelsohne ein solcher. Ein kleines italienisches Schnellboot versenkt am 10. Juni 1918 die SMS Szent István, den Stolz der österreichischen Marine, noch bevor diese einen Schuß hätte abgeben können. Satt und überheblich war sie geworden, die Marine, und sie fühlte sich unverwundbar und schluderte einen dummen Fehler nach dem anderen.
Einige Jahre davor hatte Anton Vinzenz Smolli freilich ein anderes Problem: Seine Frau hatte kein Kind von ihm und die Schwester seiner Frau war von ihm schwanger. Eine solche Situation hätte heute wohl auch eine gewisse Brisanz, obwohl wir, zumindest in den Großstädten, schon lockerer damit umgehen können, als die bigotte ländliche Gesellschaft des späten neunzehnten Jahrhunderts. Von den entlegeneren Tälern in Tirol beispielsweise erzählt man, dass man einem Bauer gratuliert hat, wenn ein Kind bei oder knapp nach der Geburt gestorben ist, überhaupt, wenn es ein Mädchen war. Die meisten Familien waren ohnehin kinderreich, es gab einfach nicht genug zu essen für alle und nicht genug Arbeit. Verhütung und Abtreibung waren Sünden, und das war am Ende des Tages das größte von allen Problemen. Kein Wunder also, dass so viele auswanderten.
19 Jänner 2020
1000 UTC | Etmal 135 sm
Das war eine harte Nacht. Wir hatten das Vorsegel ausgebaumt, aber der Wind legte gegen Mitternacht auf 6 Bft zu, flaute bei steiler Welle kurzfristig fast ganz ab, legte dann wieder schlagartig zu. Ich war insgesamt fünd oder sechs mal am Vorschiff, um in der mondlosen Finsternis zu reffen und schließlich den Baum einzuholen. Das Schiff rollte extrem stark, wir haben kaum geschlafen. Jetzt hat der Wind auf noch immer gute 5 ein wenig nachgelassen, und wir haben eine ruhigere Lage. Nur ab und an kommt noch eine große Welle, die uns ordentlich durchbeutelt. Wir schlafen nach und wir schlafen vor….
2200 UTC | 25•57 N | 19•57 W
Es ist bewölkt. Keine Sterne. Kein Mond. Wir kommen gut voran. Noch haben wir Vor- und Großsegel gerefft, aber wir liegen recht ruhig, die Geschwindigkeit passt zu den Wellen, also lassen wir alles, wie es ist.
Der WFC hat für dieses Seegebiet „occasionally“ 6–7 vorhergesagt, und ich habe das mit den Wetterkarten, die ich noch aus La Palma habe, abgeglichen und nehme an, dass diese Intensität oben bei den Kanarischen Inseln zu erwarten ist, wo sich ein Düseneffekt („venturi“) zwischen den Inseln und in der Meerenge zum Festland bildet. Das hoffe ich zumindest. Die 6 Beaufort von gestern Nacht waren genug!
Beim Reffen, also beim Verkleinern der Segelfläche, wird das Grossegel in den Mast hinein gerollt. Leider habe ich gestern Nacht eine Falte mit dem Segel eingerollt. Das werden wir aber erst bei den Kap Verden beheben, denke ich, oder wenn wir in ruhigerem Wasser sind. Ist nicht gut, aber da wir ein gutes Reff drin haben, stört mich das im Moment nicht.
Nachtwache | Der schwarze Stein
Mächtig ist er, der Grabstein der Familie Eder, und schwarz. Daneben, klein und zierlich, das Grab vom Müller Smolli, in dem auch seine Frau Serafine liegt und überraschenderweise auch die Fritzi. Warum das überraschend ist? – Die Fritzi hatte mehrere Ehen hinter sich unter verschiedenen Voraussetzungen, dazu komme ich noch, zuletzt hat sie aber einige Jahrzehnte mit ihrem letzten Mann Herbert verbracht, bis dieser nach 24 Ehejahren 1987 in Klagenfurt verstirbt und auch dort am Friedhof Annabichl begraben wird. Der Geschichte des Herbert Hild werden wir uns auch noch widmen, hier sei lediglich festgestellt, dass die Fritzi nicht bei ihrem Mann begraben wurde, sondern bei ihrem Ziehvater.
Auf der anderen Seite des Friedhofes, genau gegenüber, ist das Rogy Grab, vor dem einzigen Stück Friedhofsmauer, das mit Efeu bewachsen ist, dahinter ein Obstbaum. In dieser Idylle liegt die unehelich gezeugte Anna, geborene Klantschnig, die einen Herrn Rogy geheiratet hatte, welcher aber schon früh verstarb, und von dem ich eigentlich fast nichts weiß. Was ich aber weiß, ist, dass sie im Gegensatz zu ihrer Adoptivhalbschwester Fritzi bei ihrem Mann begraben wurde, und nicht bei ihrem leiblichen Vater, auch nicht bei ihrer Mutter.
Immer wieder hat die Anna am Hof der Familie Rogy in Möderndorf gewohnt, unweit von Hermagor. Heile Welt aus Obstbäumen und Feldern. Sie hatte ein Wohnrecht auf dem Hof, aber auch nicht mehr, selbst war sie so kinderlos wie ihre Tante Serafine. Als ich noch ein kleines Kind war, war ich bereits mit Anna auf dem Hof, geschlafen haben wir in ihrem Zimmer im ersten Stock, und jede Stunde hat die große Pendeluhr geschlagen. Daran erinnere ich mich. Und ich erinnere mich, dass die Anna dann an den Pressegger See zog, in diesen Neubau Wohnblock, in eine kleine Wohnung im Erdgeschoss, um ihre Mutter zu pflegen. Offenbar durfte die nicht mit ihr am Rogy Hof wohnen. Die Anna pflegte sie bis zu ihrem Tod, und der muss irgendwann in den 70er Jahren gewesen sein.
Mein Geburtstag fällt jedes Jahr, wenn nicht genau, so beinahe auf den ersten Sommerferientag. Bereits am Tag der Zeugnisverteilung musste mich meine Mutter zum Südbahnhof bringen, und ich fuhr, obwohl ich noch ein Voksschulkind war, allein mit der Eisenbahn nach Kärnten zu meiner „Tante Anna“, die im übrigen auch meine Taufpatin ist. Als der Zug nach Gloggnitz langsamer wurde und mit dem Aufstieg zum Semmering begann, schlich ich mich in den letzen Wagen, der meist kaum oder gar nicht belegt war, und öffnete die Tür, verbotenerweise während der Fahrt. Und ich mit sieben oder acht meinen ersten Fotoapparat bekam, eine Kodak Instamatic, habe ich einen ganzen Film verknipst, um die Lokomotiven von anderen Zügen zu fotografieren, die ich auf den Nebengleisen in den Bahnhöfen sah.
Anna besaß ein weißes Puch Klapprad mit 2-Gang-Nabenschaltung, die durch den Rücktritt betätigt wurde. Damit bin ich oft hinunter zum See gefahren und über den Schotterweg, der durchs Schilf zum anderen Ufer führte.
Zwei, drei Mal die Woche fuhren wir meist mit dem Bus, selten mit dem Zug, nach Hermagor. Würsteln bekam ich im Kaffeehaus Kandolf, und manchmal auch ein Stück Sacher Torte. Ich hatte zwar keine Ahnung, warum mich manche Leute in Hermagor anstarrten, und ich lächelte immer ein wenig verlegen, wenn jemand den Kopf schüttelte, mich ansah, und dann zur Anna sagte: »Mein Gott, wie der Otto schaut er aus.«
Am Heimweg durfte ich ganz vorne stehen im Bus, an der Windschutzscheibe neben dem Fahrer. „Pfeifer“ hieß die Station, an der wir aussteigen mussten, und wenn der Busfahrer sie ansagte, pfiff ich dazu.
Welchen Otto die Leute gemeint hatten, weiß ich bis heute nicht – und damals fragte ich nicht, denn ich wusste nicht einmal, dass auch mein Großvater Otto geheissen hatte, und wahrscheinlich hätte ich mich auch dann nicht getraut zu fragen.
20 Jänner 2020
1000 UTC | Etmal 135 nm
Seit gestern früh haben wir absolut konstante Bedingungen, NE Wind mit 4–5 Bft. Es schaukelt zwar immer wieder mächtig, aber wir haben eine ziemlich gute und stabile Lage und trotz des Reffs machen wir gutes Tempo. Eine starke Strömung treibt uns zusätzlich an. Anna hat heute Nacht 8 Stunden durchgeschlafen, ich bin in der Früh auf 3,5 gekommen, was ok ist, ich habe während der Nachtwache einige Powernaps gemacht.
Der GPS Tracker leistet gute Dienste, die Kommunikation funktioniert und ich denke, sie bringt auch zuhause Beruhigung. Max versorgt uns mit WFC, wenn wir ihn drum bitten, weil wir gerade außerhalb der Navtex Reichweite sind.
Obwohl wir die Positionslichter auf LED umgerüstet haben und den Autopilot nur mehr langsam arbeiten lassen, müssen wir täglich die Batterien mit dem Motor nachladen. Meisten ca 3 Stunden, wobei er, wenn das Tempo stimmt, dies im Leerlauf tut.
1330 UTC
Der Wind bleibt stabil und der Seegang auch. Anna hat sich hingelegt. Unser Rhythmus beginnt sich einzuspielen. Sie schläft bis 0600, dann ich bis ca 0930/1000. Dann machen wir Position, plaudern, essen. Sie ist eine richtig coole Gefährtin. Dann legt sich Anna wieder nieder, ihre nächste Wache beginnt um 1800, ich übernehme dann wieder um Mitternacht oder ein bisserl früher, wie’s halt gerade passt.
Wir haben das Seegebiet „Cap Blanc“ erreicht. Das ist gut, weiter im Norden herrscht mehr Wind und entsprechend rauhere See. Untertags zeigt das Thermometer über 25 Grad, in der Nacht 21. Dennoch haben wir Pullis an und nächtens das Ölzeug. Der Wind kann einem ganz schön unter die Haut kriechen, vor allem in den frühen Morgenstunden.
Thunfisch
Wir haben Thunfisch eingekauft, in Dosen, nicht zu knapp. Leider waren da auch Dosen dabei, die oben keinen festen Deckel haben, wie wir ihn kennen, sondern nur mit einer etwas festeren Alufolie verschlossen sind… seitdem die erste ruppige Nacht vorüber ist, putzen wir also Thunfisch, und ich fürchte das ganz genaue Putzen kommt auf unsere To Do Liste für Mindelo.
Kochen reduziert sich auf einfache Gerichte, die wenig Geschirr benötigen und am besten mit einem Besteck gegessen werden können, weil man eine Hand zum Festhalten des Tellers braucht. Ein Kochbuch über diese wirklich einfache und schnelle Küche würde sich wohl auch an Land gut machen. Der Titel könnte sein: „Kochbuch Für Seefahrer_Innen und Junggesellen, die zwar Seefahrer werden, aber keine Junggesellen bleiben wollen“ – ich mag ja lange Titel.
1700 UTC
Der Wind hat sich auf 4 bft eingependelt und kommt ein wenig nördlicher, was uns auf halben Wind Richtung Mindelo laufen lässt. Das bedeutet, der Wind kommt ziemlich genau von der Seite – der schnellste und stabilste Kurs. Zudem haben die Wellen nachgelassen, die Sonne ist herausgekommen. Den bis zu 4 Meter hohen Schwell aus Nordwest spühren wir nicht, nur wenn man den Horizont beobachtet, kann man die langsamen Auf- und Abbewegungen erkennen. Unsere Ankunft könnte bereits im Laufe des Freitag stattfinden, das wäre zwei Tage früher als erwartet.
Nachtwache | Es ist nicht überall drin, was draufsteht
Wer geht bei einem Müller ein und aus? Ein Bäckermeister beispielsweise, wie mein Großvater Otto Eder, 1899 als eines von sieben Kindern des Bürgermeisters und Kaufmanns Josef August Eder geboren. Es kommt, wie es in jedem Kitschroman kommen muss: Der Sohn aus gutem Haus verschaut sich in die Ziehtochter des Müllers, während dessen leibliche, aber außereheliche Tochter von ihrer offenbar geächteten Mutter fromm erzogen wird.
1890 heiratete der Josef August Eder die Antonie Rieder. Ein großer Trinker soll er gewesen sein, mein Urgroßvater, sagt die Legende, wer weiß, ob sie stimmt? Bürgermeisters, Cafetier, Bäckermeister und Realitätenbesitzer war er, das ist sicher, von seinen sieben Kindern sind zwei Söhne – der Gustl und der neun Jahre jüngere Otto.
Das Attentat auf den Thronfolger hat viel mit dem Verständnis unserer Identität zu tun, noch immer, leider. Der serbische Nationalist Gavrilo Princip hat am 28. Juni 1914 nicht bloß den Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand erschoßen, ganz Österreich saß in dem Wagen. Auf dem Grabstein der Familie Eder steht, dass der Gustl Eder am 16. September 1914 gefallen sei, irgendwo am Balkan, keine drei Monate nach dem Attentat von Sarajevo.
Die Österreichisch – Ungarische Armee war prompt ausgezogen, um Rache zu üben, Krieg war das jedoch noch keiner, denn man wollte nicht, dass diese »Aktion« offiziell als Krieg angesehen wird, das hätte nämlich bedeutet, dass man sich an die Regeln des Krieges hätte halten müssen, zumindest dem Anschein nach. Und genau das wollte man sicher nicht.
Die Art und Weise, in der die österreichisch-ungarische Armee am Balkan zu wüten und metzeln begonnen hat, muss eine der brutalsten und grausamsten Säuberungsaktionen gewesen sein, die die Geschichte gesehen hat, vergleichbar mit den Verbrechen im Ruanda Konflikt, den Säuberungen eines Saddam Hussein oder den Gewalttaten des Islamischen Staates, dem Völkermord an den Armeniern oder den Vergeltungsschlägen eines Assad in Syrien.
Und so, wie in den genannten Konflikten, war auch am Balkan der Widerstand gegen die rachsüchtigen Herrscher erbittert, die Opfer hatten entschieden, sich zur Wehr zu setzen. Das gegenseitige Schlachten und Vergewaltigen drehte sich zu einer apokalyptischen Spirale. Im Partisanenkampf tragen nicht alle Kämpfer Uniform, der Tod kommt oft von hinten, wir kennen das von den CNN Berichten aus dem Irak und Afghanistan, dem heiligen Krieg der USA gegen den Terror des heiligen Kriegs der Islamisten, heiliger Strohsack, es wiederholt sich. Imperatrix.
Auf diesen erbitterten Widerstand waren die Österreicher nicht vorbereitet, die herben Verluste der k.u.k. Armee am Balkan haben den Kriegsverlauf und vor allem seinen Ausgang ganz entscheidend beeinflusst. Die Niederlage begann mit dieser gesetzlosen Aktion. Ein Verbrechen mit einem Verbrechen zu beantworten hat damals nicht funktioniert, es funktioniert heute nicht, und es wird nie funktionieren.
Was die k.u.k. Armee aber natürlich sehr gut konnte, war Listen zu führen, akribisch, kafkaesk. Er war also nicht weiter schwierig zu finden, der Eder August, Reserve Feldwebel, Infantrie Regiment Nr. 37, verwundet. Verwundet und nicht gefallen, wie es der Grabstein behauptet?
Die Geschichte ist am Ende immer die, deren Erzählung überlebt. „Für die Vollständigkeit und Richtigkeit des Nachdrucks der Verlustlisten übernimmt das Kriegsministerium keine Verantwortung“ – so lautet der erste Satz der Verlautbarung auf den Gefallenen- und Verwundetenlisten. Ob der Gustl wirklich am Friedhof in Hermagor begraben ist? Wer weiß! Denn wie schon gesagt, es liegen nicht alle unter dem schwarzen Stein, deren Name auf ihm steht. Ungereimtheiten laden zu Spekulationen ein.
21 Jänner 2020
0000 UTC
Wir haben ruhige 3–4 Bft und kommen gut voran. Ich konnte sehr gut gut schlafen, fast sechs Stunden im Stück, begleitet von total chaotischen, verwirrenden Träumen. Es ist auch nicht mehr so kalt. Diese 3–4 Bft sind überhaupt eigentlich die ideale Windstärke für unser Schiff und uns. Wir liegen nahezu waagerecht, das Rollen hält sich absolut in Grenzen und wir kommen gut voran. Gestern Abend haben wir noch ein Navtex von Tarifa Radio empfangen, das ist über 1000 Meilen entfernt, unglaublich. Bin schon gespannt, wann wir die erste Nachricht von den Kap Verden erhalten werden.
Surreal
Anna nannte die Art zu reisen „surreal“ und erklärte das so: Man fährt irgendwo weg, und schwupps ist man tagelang im Nirgendwo, und dann schwupps, ist man woanders. Ich habe das bisher nicht so gesehen, aber es stimmt natürlich. Das Wegfallen jeglicher Bezugspunkte, wie man sie bei Reisen über Land hat, schafft einen eigenen Raum.
Das mag mit ein Grund dafür gewesen sein, dass man irgendwann begonnen hatte, sich nach den Sternen zu orientieren, was bei einer wolkigen Nacht wie dieser allerdings hinfällig ist. Vielleicht gieren wir deshalb so danach, Wetterinfos von verschiedenen Stationen zu bekommen, oder mithilfe moderner Technologien den Standort bestimmen und wenigstens an der Veränderung der Zahlen das Fortkommen messen zu können? Vielleicht ist es auch deshalb für die Lieben daheim so wichtig, zumindest Kurznachrichten erhalten zu können, oder nachsehen zu können, von wo die letzte Position gesendet wurde – damit wir im selben Raum bleiben… ich verstehe das gut.
Nachtwache | Zahlenspiele und Spekulationen
Der spätere Bäckermeister Otto Eder war also 15, als sein älterer Bruder Gustl in den Wirren der Vergeltungsaktion für das Sarajevo Attentat verschwand. Danach war Otto der Hahn im Korb – fünf Schwestern, die Mutter, und der angesehene Vater. Wann sich die Fritzi und der Otto kennengelernt haben, wann sie sich näher gekommen sind, darüber können wir nur mutmaßen. Otto war um acht Jahre älter als sie, in der Schule haben sie sich daher wohl nicht kennengelernt, aber vielleicht bei irgendeiner Festivität? Ein Kirtag? Eine Feier, die der Cafetier Josef August veranstaltet hat? Oder sind sie einander eines Tages, als der Bäckermeister aus geschäftlichen Gründen den Müller aufsuchen wollte, zufällig vor der Mühle begegnet, ein tiefer Blick, dann ein heimlicher Kuss hinterm Haus, neben dem Mühlrad?
Alles gut möglich. Aber vielleicht ist es auch profaner.
1926 stirbt Ottos Mutter Antonie, drei Monate später folgt ihr Josef August. Die Legende sagt, er hätte nach dem Tod seiner Frau von einem Tag auf den anderen zu trinken aufgehört und nicht auf den Rat des Arztes gehört und wenigsten ein bisschen Alkohol zu sich genommen. Legenden.
Josef August ist 60, als er stirbt. Sein Vater, Johann Eder (1818–94) – übrigens auch Kaffeehausbesitzer und Bäcker, und sein Großvater Franz (1784–1861), erreichten hingegen beide ein für diese Zeit respektables Alter.
Der einzige noch lebende Eder Sohn ist 28, als er sein Erbe antritt, also relativ jung, und damit lassen wir es mit den Zahlenspielen auch gut sein. Zwei Monate vor dem Tod seiner Mutter heiratet er die Fritzi. Die Keuschler Tochter Serafine Smolli wird schon dahinter gewesen sein, dass diese Ehe zustande kommt, würde es nicht gut zu dem Wunsch nach Demütigung der Schwester passen, und ihres unehelichen Bankerts? Standesgemäß. Und dem alten Smolli wird die Ehe wohl auch in den Kram gepasst haben, nehme ich an, aus welchen Gründen auch immer.
0545 UTC
Die Nacht war ruhig und gleichmäßig. Nur einmal hörte ich einen kurzen Funkverkehr zwischen einem dem Akzent nach russischen und einem asiatischen Seemann, die sich darauf einigten, wie sie ihre Schiffe aneinander vorbei steuern sollten. Sprache ist etwas wunderbares – und kann so unterhaltsam sein. Gesehen habe ich die Schiffe allerdings nicht.
1245 UTC
Wir haben gut geschlafen und gut gegessen. Es mag banal erscheinen, dass ich das so häufig erwähne, aber es ist in der Tat entscheidend für die Stimmung und die Leistungsfähigkeit.
Die Falte konnten wir aus dem Großsegel eliminieren, sie war weniger tief als befürchtet.
Der WFC macht nicht so schlau, Cap Verde ist ein riesiges Seegebiet, in dessen äussersten östlichen Sektor wir nun eingetaucht sind. Die Winde hier sollen mehr oder weniger so bleiben, während im äussersten Nordwesten des Seegebietes und im Westen der Wind auf Südwest drehen soll. Ich hoffe sehr, dass uns das nicht betrifft!
Jedenfalls scheint ein Tiefdruckgebiet in einiger Entfernung sein Unwesen zu treiben. Das westliche Ende vom Seegebiet Cap Verde ist über siebenhundert Seemeilen von uns entfernt, also über 1250 Kilometer. Ich hoffe, das reicht…. Noch ist die große Schwierigkeit für mich das Einschätzen und Interpretieren dieser enormen Distanzen. Im Mittelmeer interessiert Dich recht wenig, was 700 Meilen weit weg passiert, da sind Landmassen und Inselgruppen dazwischen, der kontinentale Einfluss bestimmt das Geschehen und macht es kleinteiliger.
Wie auch immer, jetzt gilt es vor allem das zu tun: Schlafen, Essen, Suppe kochen!
1500 UTC
Ein strahlend schöner Tag. Vom Passat in Flocken zerrissene Wölkchen an den Horizonten, weit voraus eine dichtere Wolke, die den Horizont berührt, aber weiß, eher Dunst, würde ich sagen. Das Barometer ist stabil, das Sturmglas klar, Lufttemperatur 26 Grad, jetzt, am frühen Nachmittag. Erstmals kurze Hose und T Shirt.
1800 UTC
Kaum ist die Sonne hinter einer Wolke, ist wieder die lange Windstopper Hose und das Fleece Jäckchen angesagt!
Heute aus der schnellen und einfachen Küche: Überbackene Avocados, einmal mit Serrano Schinken und das andere mal mit Pasta Asciutta. Dazu hören wir Wycleaf Jean und grenzgeniale Dylan Covers. Das Leben ist gut, und dieser Tag. Danke!