Sonne, Marquesas, System
Unsere Abreise wirft ihre Schatten voraus. Die Lebensmittelbestände sind erfasst und ergänzt, das Schiff wird stückweise geputzt und die notwendigen Vorbereitungen getroffen, damit es die nächsten Monate hier stehen kann. Festmacherleinen sind hier kein Thema. Es gibt keine Berge hier, der Fluss ist ruhig und so gut geschützt, dass selbst ein Gewitter keine Probleme macht. Dafür müssen wir die starke Sonneneinstrahlung besonders berücksichtigen und die heftigen Regenfälle, die hier möglich sind.
Mark und die Marquesas
Mark ist ein sympathischer Holländer, der in einem Stahlschiff, das sein Vater (sic!) Mitte der 80er Jahre gebaut hat, vor einigen Tagen hier ankam. Eine Freundin aus Deutschland hat ihn auf der Überfahrt von den Kap Verden hierher begleitet. Sie war das erste Mal auf einem Segelboot und durchgehend seekrank, hat das aber mit Humor genommen. Wir haben uns mit den beiden angefreundet.
Mark will über Patagonien auf die Marquesas, die ja ziemlich genau in der Mitte des Pazifiks liegen. Er ist Ende 40, hat seine Tischlerei verkauft und erhofft sich dort ein entspanntes Leben außerhalb »des Systems«, wie er es nennt, und das er anklagt.
Anna und ich hatten am nächsten Tag ein interessantes Gespräch über »das System«, Ungerechtigkeit, Verschwörungstheorien und die Unumgänglichkeit, aber auch Fehlerhaftigkeit des Rechtsstaates, wie wir ihn in Europa kennen. Am Ende stellten wir fest, dass die teilweise auch berechtigte Jammerei über das System ja nichts verändert, und es bleib die Frage, wie das System – was immer das ist – verbessert, verändert oder wodurch es ersetzt werden kann, und vor allem wer darüber entscheiden soll, in welche Richtung es sich entwickeln soll, und welche Möglichkeiten Du als Einzelner hast, darauf Einfluss zu nehmen? Ob es allerdings in einer globalisierten Welt einen Ort gibt, an dem Du vor dem System sicher bist, wage ich zu bezweifeln – ist nicht “das System” immer das, was wir alle daraus machen?
Inspiration
Solche Gespräche regen aber zweifelsohne dazu an, über die eigenen Motivationen nachzudenken. Mit dem Boot zu reisen ist ein fester Bestandteil meines Lebens geworden, und darüber bin ich nicht nur froh, sondern auch sehr dankbar, dass ich die Gelegenheit dazu habe. Es entspricht mir. Ein solcher »Aussteiger« Plan, wie Mark ihn umzusetzen versucht, wäre für mich allerdings undenkbar. Auch wenn ich alle paar Monate mal aus Wien raus muss, auch wenn diese Intervalle bisweilen kurz erscheinen, so muss ich nach einer gewissen Zeit doch auch wieder zurück. Das hat selbst unter Betracht aller Ärgernisse und allen Stresses aber keineswegs etwas mit einer Hassliebe zu tun. Ich empfinde es vielmehr als eine Art zu leben, und kein »Urlaub«. So nehme ich auch meistens Arbeit mit auf diese Reisen, und wenn ich sie nicht mitnehme, dann bringe ich welche heim.
Einen weiteren Tag später fuhr ich mit Mark zum Supermarkt, er wollte auch seine Vorräte ergänzen. Beim Plaudern im Auto stellte er fest, dass er Patagonien ja frühestens in 8–10 Monaten durchqueren könne, wenn dort wieder Sommer sei, dass er die Sprache nicht beherrsche und daher nur schwer einen Job hier finden würde, und dass er nun überlege, ob er nicht den (europäischen) Sommer als Segellehrer in den Niederlanden verbringen solle.
Global Village
Auch wenn es vielleicht ein bisschen seltsam klingt, so ist es selbst heute noch etwas besonderes, als »Seefahrer« in ein fremdes Land zu kommen. Man tritt in eine andere Art der Interaktion mit den Menschen, wird als jemand wahrgenommen, der einen gewissen Aufwand betreibt, gewissen Strapazen auf sich nimmt, um genau hierher zu kommen – dafür erhält man so etwas wie Respekt. Interessant ist aber auch, dass die Menschen in jedem Land sehr genau unterscheiden, ob Du »normal« daherkommst, also mit dem, was Du brauchst, oder von einer übertriebenen Luxusyacht steigst, deren Überfluss zwar (auch nur in manchen Fällen) hübsch anzusehen ist, aber auch viele Fragen aufwirft.
Unvergesslich diese riesige Delfinherde, die uns mitten am Atlantik mit einem enormen Geschwindigkeitsüberschuß überholt hat – Jahrmillionen alte Globalisierung, hautnah und in Echtzeit, immer in Bewegung, rund um den Globus. Wir sind die Gäste!