Zwar erstreckt sich hinter der Stadt noch ein Stück weit die vulkanische Insel, aber fast alle Bewohner leben in Mindelo. Man sieht auffällig viele junge Menschen, der Anteil der unter 30 jährigen ist auf den Kap Verden in den letzten Jahren auf fast 30% angestiegen. Bemerkenswert ist, dass die jungen Menschen hier bleiben und ihre Zukunft im Land sehen. Die Kap Verden wurden ja erst recht spät entdeckt und besiedelt, und waren über viele Jahrhunderte hinweg ein klassisches Auswanderungsland. Mindelo war immer schon eine wichtige Station zum Bunkern der Schiffe und ist portugiesisch geprägt. Eine besondere Blühte erlebte der sichere Hafen, als die amerikanischen Walfänger hier auf ihrem Weg in den Südatlantik Station machten.
Auf Sao Vicente ist der Aufschwung allerdings mit dem Kreuzfahrttourismus verbunden, nachdem hier immer mehr Schiffe festmachen. Ein neuer Terminal für die riesigen Hotelschiffe ist bereits in Bau. Es ist jedenfalls spannend zu beobachten, wie Kreuzfahrten, die bekanntlich ökologisch ein wenig problematisch sind, auf der anderen Seite Orten helfen können, auf die Beine zu kommen.
Ansonsten ist Mindelo überschaubar. Ein paar Straßen links, ein paar rechts, eine palmengesäumte Avenida. Fischmarkt, Obstmarkt, Supermärkte und die Geschäfte, die man halt so braucht.
Nachtwache | 1963
Herbert Hild kam wohl irgendwann in den späten 40er Jahren aus der Gefangenschaft heim, ein gebrochener Mann, abgemagert bis auf die Knochen, wie man erzählt. Einer all jener Verlierer, die für diesen Irrsinn auch noch in den Krieg gezogen waren und für die deutsche Nation statt gegen den Wahnsinn gekämpft haben. Die Fritzi nimmt sich seiner an, gemeinsam wirtschaften sie die Smolli Mühle ab, der alte Anton Vinzenz Smolli stirbt 1959. Fritzi und Herbert heiraten im Oktober 1963. Warum so spät? – Weil 1963 ein denkwürdiges Jahr ist.
Am 5. Mai 1963 stirbt mein Großvater Otto Eder in Villarrica, Paraguay. Einer Scheidung von seiner Frau Fritzi hatte er bis zu seinem Tod nicht zugestimmt. Daher war auch ihre Ehe mit Cyrill Findlay ungültig, weil die Fritzi zum Zeitpunkt der Eheschließung ja noch mit Otto verheiratet war, was für sie sichtlich eine Menge an Unannehmlichkeiten nach sich gezogen hatte. Otto wollte sich aber offenkundig nicht von ihr trennen – aus welchen Gründen auch immer – und es liegt für mich die Vermutung nahe, dass es in den 1930er Jahren sehr wohl seine Absicht gewesen sein könnte, Frau und Kind nach Paraguay zu holen. Ich halte es auch für gut möglich, dass Otto irgendwann zurück wollte, was die Fritzi – oder der alte Smolli? – verhindert haben. Ausgewanderte, die zurück wollten, waren nirgends gern gesehen, eine solche Rückkehr war im Regelfall für die Angehörigen mit finanziellen Bürgschaften verbunden, mit denen sie für die gesamte, also auch die medizinische Versorgung des Rückkehrers garantieren hätten müssen. Das kann teuer werden. Selbst als eine der Schwestern von Otto in den 1970er Jahren den Versuch unternahm, den Leichnam aus Paraguay nach Hermagor überstellen zu lassen, um ihn im Familiengrab unter dem Schwarzen Stein zu verscharren, legten sich meine Großmutter und mein Vater quer. So steht auch der Name meines Großvaters zwar auf dem Stein, aber begraben ist er da nicht. Natürlich wäre es ein einigermaßen sinnloses Unterfangen gewesen, aber die Sinnlosigkeit war nicht der Grund für die Verweigerung.
Für mich zeichnet all das ein differenzierteres Bild von meinem Großvater Otto, der wohl doch nicht, wie von der Fritzi vor Gericht dargestellt, der leichtsinnige Lebemann und Pleitier war.
Marina Mindelo
Die Marina hier ist ein seltsamer Platz. Es geht ja das ganze Jahr über hier gut Wind mit 3–5 Bft, die Marina besteht nur aus Schwimmstegen und da das Wasser in Bewegung ist, bewegt sich hier ständig alles, selbst die Bar. Von der Stimmung unterscheidet sie sich deutlich von allen anderen Plätzen, die wir im Laufe der vielen Jahre kennengelernt haben. Charterboote gibt es hier nicht, und ausser ein paar Motorboten von Einheimischen auch kaum Dauerlieger. Alle sind auf der Durchreise, und jeder ist sehr fokussiert auf das, was er vorhat. Man bekommt, was man benötigt – Spielereien gibt’s hier allerdings keine. Die Atmosphäre ist konzentriert und fast täglich fragen Globetrotter aus aller Herren Länder nach einer Passage entweder in die Karibik oder nach Südamerika. Yachtstopper, könnte man sagen.
Besonders beeindruckt hat mich ein Ruderboot, das sich für die Überfahrt fertig macht. Zudritt über den Atlantik rudern! Was das erst mit Deinem Hirn macht….
Und dann kam gestern noch ein Spanier aus La Gomera an, der neben uns liegt. Er hat ein vielleicht 10 Meter langes und nach einer Mischung aus verschiednen klassischen Kanu – Rissen gefertigtes Langkielboot aus Vollholz. Mit genau so einem Boot hat bereits der Urvater der Yacht- und Fahrtensegler, Joshua Slocumb, Ende des 19. Jh. die Welt alleine umsegelt. Ich fragte ihn, wie alt das Schiff sei. Er grinste und sagte: »3 Jahre«, er hätte es selbst gebaut, jede Planke, jede Luke, jeden Beschlag. Der 59 jährige Spanier hatte aus La Gomera hierher nur 2 Tage länger gebraucht als wir von La Palma, sein bestes Etmal waren 120 Meilen. Hut ab. Sein Ziel: Der Pazifik via Panama. Tolle Sache! – Bis nach Guadeloupe, also für die Atlantiküberquerung, begleitet ihn übrigens seine Tochter, die gerade ihr Studium beendet hat.
Wir haben einstweilen die Genua (das extragroße Vorsegel) beim Segelmacher kontrollieren und das Bimini (Sonnenschutz) ausbessern lassen und die Vorsegel getauscht. Morgen lassen wir noch das Ventil am Wassertank wechseln und ein Brett anfertigen, das uns im Cockpit als Ablage und bei den Nachtwachen als Liegemöglichkeit dienen soll. – Und dann geht’s eigentlich schon ans Bunkern. Wenn alles passt werden wir wohl schon Donnerstag aufbrechen.
Nachtwache | Selbstklebefolien und Wirtschaftswunder
Für die Eheschließung zwischen Fritzi und Herbert müssen die Dokumente in Ordnung gebracht werden, die Trennung von Otto Eder wird durch dessen Tod anerkannt, die Ehe mit Cyrill Gindlay Sainsburry annulliert, wodurch Fritzi auch rückwirkend nie englische Staatsbürgerin wurde, obwohl sie eine Weile lang einen britischen Pass besaß. Die Ehe mit Herbert Hild kann rechtskräftig geschloßen werden.
Zu diesem Zeitpunkt ist die Mühle bereits Geschichte. Das Mühlensterben hat auch die Hermagorer Mühle erwischt, notwendige Veränderungen konnte oder wollte meine Großmutter nicht umsetzen. Zeit ihres Lebens war sie der Ansicht, dass die Maschinen besteuert werden müssten, die die Arbeit von Menschen verrichten. Der alte Müller Anton Vinzenz Smolli war bereits vier Jahre vorher gestorben, 1959.
Nachdem die Mühle weg ist, gehen Fritzi und Herbert nach Wuppertal, wo Herbert bei der Firma Jackstädt eine, wie ich glaube, ganz gute Stelle antritt. Jackstädts machen in Selbstklebefolien und Aufklebern.
Als ich mit 11 Jahren beschloß, nach Wuppertal zu gehen, weil ich nicht in Wien in Internat bleiben wollte, drang ich in die seltsame Welt der Nachkriegsordentlichkeit ein, Tupperware und Tiefkühltruhen. Ich erinnere mich daran, dass Frau Jackstädt einen Mercedes Sportwagen fuhr, und an das geduckte Einfamilienhaus, in dem meine Großeltern wohnten, das Küchenfenster straßenseitig mit einem gehäkelten Vorhängchen bis auf 2/3 blickdicht gemacht.
Und ich erinner mich an einen Besuch bei der Herrn und Frau Jackstädt, luxuriöse Villa, im Keller eine riesige Spielzeugeisenbahn und ein Swimmingpool mit olympischer Länge. Herr Jackstädt saß am Rand des Beckens und steuerte mit Hingabe ein ferngelenktes Boot durch den Pool. Groteske Szenerie. Und ich bilde dazu noch ein, er hätte eine Kapitänsmütze dabei getragen, aber ich vermag ehrlicherweise nicht genau zu sagen, ob diesbezüglich nicht die Phantasie der Erinnerung einen Streich spielt.
Das Essen war allerdings ohne jeden Zweifel scheußlich und ich war ganz gewiss elf Jahre alt.