Distanzen, Optionen und Kassazettel
1930 UTC
Max ist pünktlich und wohlbehalten angekommen und wird uns auf die Kanaren begleiten. Ein paar Tapas in der einheimischsten Tapas Bar am Eck neben der Kirche.
Seit Tagen studieren wir das Wetter, die Windverhältnisse scheinen vielversprechend zu sein. Vor wenigen Minuten kamen die neuen Berechnungen, und die Vorhersagen der verschiedenen Wettermodelle sind bis inklusive 9. Jänner nahezu deckungsgleich, genauso wie die von den verschiedenen Modellen errechneten Kurse. Das war auch schon bei der letzten Vorhersage so und bedeutet, dass die Prognose ziemlich vertrauenswürdig ist. Ausführlicheres zum Thema Windprognose gibt’s morgen, so ich rechtzeitig fertig werde!
Grundsätzlich haben wir zwei Optionen ins Auge gefasst, und bei genauerer Betrachtung ist es höchst faszinierend, wie sich die Distanzen im Atlantik gleich mal um zweihundert Meilen verschieben.
Variante 1: Lanzarote
Die kürzere der beiden Möglichkeiten führt uns entlang der marokkanischen Küste, von der wir aber wegen der Fischer mindestens 30 bis 40 Meilen entfernt bleiben würden, nach Lanzarote. Wir würden dann allerdings nicht Arrecife, sondern das etwas südlicher gelegenere Puerto Calero ansteuern. Diese Route bietet weniger Wind als unsere Alternative und birgt sogar die Gefahr, dass wir im nördlichen Teil in eine Flautenzone kommen könnten, die uns im Worst Case dann auch noch begleitet. Diese könnten wir nur umgehen, wenn wir weiter westlich blieben, und das brächte uns eigentlich schon auf den Kurs der zweiten Variante.
Der Vorteil dieser Route ist ihre Kürze: ca. 630 Meilen sollten sich in 120-130 Stunden, also in guten 5 Tagen machen lassen. Allerdings klingen die rund 1000 Meilen, die es dann noch von Lanzarote auf die Kap Verden sind, respekteinflößend. Ein weiterer Stop böte sich lediglich in Fuerteventura an, was aber nur im Notfall in Betracht käme.
Variante 2: Santa Cruz de la Palma
Von La Palma auf die Kap Verden sind es hingegen “nur” 820 Meilen, also zwei Tage weniger, zwei Tage, die wir dafür von Gibraltar nach Santa Cruz de La Palma länger brauchen würden. Die beiden Abschnitte (Gibraltar – Santa Cruz und Santa Cruz – Mindelo) hätten nahezu idente Distanzen, auf die wir uns gut einstellen könnten. Ein Zwischenstop auf der südlichsten und gleichzeitig westlichsten Kanareninsel El Hiero, die direkt am Kurs zu den Kap Verden liegt, wäre bei dieser Variante nicht nur möglich, sondern auch attraktiv.
Die Distanz Gibraltar – Kap Verden bleibt in beiden Varianten mit rund 1600 Meilen gleich.
La Palma liegt weit westlich, und die Route dorthin bringt gleichmäßigeren, aber auch stärkeren Wind und damit auch mehr Welle. Nach Santa Cruz würden wir zweifelsohne mindestens 7 Tage lang am Weg sein.
Bei La Palma bekommt Anna glänzende Augen. Die Insel ist überaus charmant beschrieben, soll deutlich weniger touristisch sein, als die anderen Inseln der Kanaren und ein paar tolle Naturspektakel auf Lager haben. Die geringe Lichtverschmutzung so wie die geographische Lage, das Wetter, vor allem aber der Umstand, dass der Kraterrand des “Roque de los Muchachos” fast zweieinhalbtausend Meter über den Meeresspiegel hinausragt, machen die Insel zum idealen Standort für international betriebene astronomische Observatorien.
Versorgungsmöglichkeiten und Hafen sind offenbar gut und Santa Cruz de La Palma ist sicherlich das ungewöhnlichere der beiden Ziele. Es gibt also eine gewisse Präferenz für La Palma.
Vernetzt
Egal, welche der beiden Routen wir schlußendlich wählen werden, wir werden eine Woche lang nicht nur nicht erreichbar sein, wir werden auch keine Anbindung ans Netzt haben, keinen Empfang, kein Datenroaming, niemanden, den wir anrufen können, wenn das Internet nicht funktioniert. Vor ein paar Jahren haben wir innerhalb Europas noch unsere Handys nur in Ausnahmesituationen verwendet und darauf geachtet, dass wir wegen der astronomischen Kosten ja keine Daten herunterladen. Im Handumdrehen haben wir uns daran gewöhnt, überall innerhalb der EU mobile Sprach- und Datenkommunikation zur Flat Rate unseres Mobilfunkvertrags. Eine angenehme Errungenschaft dieser Union. Und nun? Eine Woche lang keine Mails, kein Telefon, keine “News” – können wir uns das überhaupt noch vorstellen? Die Frage beängstigt, will man doch die Antwort lieber vermeiden.
Satellitentelefon, wird jetzt mancher sagen, warum nehmen sie denn kein Satellitentelefon mit?! Satellitentelefone sind nicht nur in der Anschaffung, sondern vor allem im Betrieb so teuer, dass man sich das schon gut überlegen muss. Eine durchgehende Netzabdeckung ist auf unserer Route ebenfalls nicht garantiert, südwestlich der Kap Verden ist ein Funkloch möglich (also in einem Gebiet, das wir durchqueren wollen, in das man aber nicht kommt, wenn man, wie die meisten, von den Kanaren in die Karibik segelt), wobei ein “Loch” am Atlantik gleich mal ein paar hundert Quadratkilometer groß ist.
Die Datenrate dieser Verbindung ist mit max. 3 Kilobit minimal und reicht gerade für den Empfang einfachster Textnachrichten. Zum Vergleich: Die normale Anbindung ans Internet in Europa erreicht in seinen langsamsten Formen einige Megabit und ist damit tausendmal so schnell. Ein Megabite herunterzuladen, kostet bereits eine Lawine. An Netflix ist also nicht im Entferntesten zu denken.
Natürlich stimmt es, dass man mit einem solchen Telefon im Ernstfall jemanden anrufen könnte. Nur – wie sieht er aus, der Ernstfall, und wen sollten wir anrufen?
Wer ein Schiff führt, stellt sich diese Frage nicht oft, sondern andauernd. Sie begleitet Dich. Aber eines ist klar: Da draußen sind wir auf uns gestellt und müssen zu aller erst einmal alleine, mit unseren Fähigkeiten, unserer Verantwortung und den uns zur Verfügung stehenden Mitteln mit jedem Problem zurecht kommen. Es macht uns Mut, dass genau diese uns zur Verfügung stehenden Mittel zweifelsohne vergleichsweise exzellent sind. Sollten wir dennoch in eine Situation geraten, in der wir Hilfe von außen benötigen, dann erhalten wir diese ausschließlich von Schiffen, die in unserer Nähe sind – wobei “Nähe” am Atlantik sicherlich ein buchstäblich dehnbarer Begriff ist, der sich im Wesentlichen auf die Reichweite unseres Funkgeräts eingrenzen läßt. Jede andere Form der Hilfe könnte uns erst nach Tagen erreichen.
Es steht natürlich außer Frage, dass ein Satellitentelefon einiges vereinfachen kann. Wir könnten beispielsweise über eine Küstenstelle versuchen, die Satellitentelefonnummer eines Frachters ausfindig zu machen, der gerade nicht in unserer Reichweite ist. Wir könnten medizinische Anweisungen abfragen, was natürlich auch sehr hilfreich sein könnte.
Eine Alternative zum Satelliten Telefon wäre ein Satelliten Tracker. Ein solches Gerät funktioniert auch über eine zweiweg (senden und empfangen) Satellitenanbindung via Satelliten-Telefon-Vertrag, der aber gegenüber einem Telefon relativ günstig ist. Das Gerät sendet regelmäßig Positionsangaben an eine Webseite, auf der die Daheimgebliebenen nachsehen können, wann wo man sich befindet bzw. befunden hat. Zudem, und das ist das Entscheidende, gibt es die Möglichkeit, Textnachrichten zu empfangen und eben auch zu senden. SMS. Damit wäre nicht nur eine einfache Kommunikation bei medizinischen Fragen, sondern auch der Empfang von ganz einfachen Wettermeldungen und GRIB Files möglich. Gewöhnungsbedürftig wäre allerdings dennoch die bis zu 15 minütige Verzögerung beim Empfang der Nachrichten.
Allerdings ist kein Gerät davor gefeit, kaputt zu gehen, und ich frage mich, wie es jemandem daheim ginge, gäbe das Ding plötzlich den Geist auf, sendete es auf einmal keine Positionen mehr, kämen auch nach stundenlangem Warten gar keine SMS mehr? Und was täte die- oder derjenige dann? Und wann täte sie oder er es?
Nach dieser ersten Langetappe werden wir mehr darüber wissen, und sollten wir zu der Meinung gelangen, dass ein solcher Tracker Sinn macht, dann werden wir uns diesen auf Kanaren besorgen.
In See zu stechen ist immer ein Abenteuer, und wäre es das nicht, würden wir es nicht tun. Wir sind allerdings auch nicht die ersten, die das tun, und bei aller Weite des Ozeans ist bei solchen Betrachtungen der Gedanke tröstlich, dass wir nicht alleine sind, da draußen.
Wettermeldungen werden wir auf der ersten Etappe aber jedenfalls über unser altes, bordeigenes Navtex empfangen – Textnachrichten, die via analogem Funk auf Distanzen, die weit über den UKW Sprechfunkbereich hinausgehen (100 – 500 Seemeilen von der Sendestation), gesendet werden. Das gute alte Navtex 4 aus den 90er Jahren, das wir an Bord haben, ist mittlerweile ein Klassiker. Es hat kein elektronisches Display, sondern druckt die Wetter- und Navigationsberichte auf Thermopapier aus, das nicht nur so aussieht wie ein Kassazettel, sondern sich auch so anfühlt.
PS.: Nachdem wir ja vor einigen Tagen bereits reichlich Olivenöl gebunkert haben, habe ich sicherheitshalber noch eine (zweite) Flasche Wermut ins Lager gelegt. Ich trink’ ja keinen Alkohol, aber manche Besucherinnen gibt das Wissen um bedarfsorientierte Verfügbarkeit von Wermut ein Gefühl von Zivilisation und Sicherheit.
GRIB ” General Regularly-distributed Information in Binary form” ist ein komprimiertes binäres Datenformat, das in der Meteorologie verwendet wird. Praktische Bedeutung hat dieses Format für Wetter- und Strömungsvorhersagen in der Schifffahrt, für Segler und Flieger (Höhenwindvorhersagen).