Die Nacht dauerte bereits einige Stunden, doch der Mond war noch nicht aufgegangen. Ein Firmament voller Sterne bis zu den Horizonten, zum Greifen nahe und darunter Finsternis. Wir rätselten über Lichtscheine, die sich weit vor uns im Dunst und in tiefen Wolken verfingen. Insel konnten es keine sein – 300 Meilen von Trinidad und ebensoviele von Barbados waren wir entfernt. Auf einmal klare, nahe Funksprüche auf Spanisch, die wir nicht zu übersetzen vermochten. Wir bezweifeln, dass das was mit uns zu tun haben könnte.
Nach dem dritten oder vierten Funkspruch antworte ich doch – auf Englisch. Ein Fischer sagt, er sehe unsere drei hellen weissen Lichter, ob wir denn auch ein Fischerboot wären. (Die Europa hat neben dem weissen Hecklicht zwei solarbetriebene weisse Rundumlichter auf den beiden beiden Gerätemasten am Heck). So sehr wir uns auch bemühen, können wir das andere Boot nicht ausmachen. Wir tauschen unsere Positionen aus – und damit beginnt eine vorsichtige Unterhaltung. Wo wir hinwollen? Wo er herkommt? Aus Trinidad. Ja, da wollten wir auch ursprünglich hin, geht aber nicht wegen der Coronabeschränkungen. Yeah maaaan, röhrt es aus dem Lautsprecher, in dem ein „überall dieselbe Scheisse“ liegt. Er erzählt von Trinidad, dass es ein gutes Land sei, multiethnisch, sehr divers. Vielleicht würde es ja nächstes oder übernächstes Jahr mit einem Besuch klappen. Wir wünschen uns gegenseitig von ganzem Herzen eine ruhige und sichere Weiterfahrt durch diese Nacht. Over and out.
Seine Postion lag außerhalb der Reichweite unseres Radars. Nach dem Funkkontakt vorüber war, hatten wir dennoch nicht das Gefühl, den Kontakt verloren, sondern einen neuen Gefunden zu haben. Und alles begann damit, dass wir unsere Positionen ausgetauscht hatten.
Ein weiteres, um den Faden meines gestrigen Eintrages wieder aufzunehmen, kürzeres Beispiel eines umfassenden Wechsels des Narratives stammt aus der Antike. In den Überlieferungen heisst es, dass auf jenen beiden Säulen, die die Meerenge von Gibraltar kennzeichnen (also die küstennahen Hügelketten von Spanien und Afrika in der Meerenge), zu lesen war „Non Plus Ultra“ – zu Deutsch: Hier geht‘s nicht weiter – da ist nichts mehr. Unweit der Meerenge im Westen vermutete man den Rand der Scheibe. Das war zu dieser Zeit ein unbestrittenes Faktum. Wer es anzweifelte, wurde für verrückt erklärt oder gevierteilt. Im heutigen Wappen der Spanischen Flagge finden sich die Worte leicht verändert wieder: „Plus Ultra“… da ist noch viel mehr…
Die Faktenlage hat sich zwischen Antike und Neuzeit ja nicht geändert. Was sich geändert hat, ist die Erkenntnis. Diese beruht aber auf der Wahrnehmung der Fakten – oder wie Da Vinci es formulierte: Unser Wissen beruht auf schauen. Das Wunderbare and dem Satz ist seine Doppeldeutigkeit. Einerseits beruht das, was wir wissen, auf dem, was wir erkennen, andererseits existiert diese Wahrheit, dieses Faktum erst dadurch, dass wir es sehen! Eine Giraffe, die über den Hauptplatz geht, ist erst über den Hauptplatz gegangen, wenn sie dabei von jemandem wahrgenommen wurde. Wird sie nicht wahrgenommen, hat dieses Ereignis aber auch nie stattgefunden – es existiert nicht! – Man könnte das auch dahingehend auf die aktuelle Situation bezogen abwandeln: Ist ein Impfstoff, der gegen Corona wirkt, auch wirkungsvoll, wenn ihn niemand verwendet? Es ist unerhebliche Semantik zu sagen, der Impfstoff selbst würde ja wirken. Er ist wirkungslos, wenn ihn keiner verwendet. Der zweite Teil der Information ist für unsere Realität entscheidend. Er ist das Resultat unserer Erzählung.
Lustig ist natürlich auch das Narrativ des Ibiza Videos unter diesen Gesichtspunkten zu beleuchten, aber da warten wir mal noch ein wenig zu. Stoff für das Logbuch einer anderen Seereise.
Das Interessante ist, dass die Verschränkung aus Handlungen und ihre Erzählung in einem geradezu vermaledeiten Wechselspiel zueinander stehen. Der vermeintlich unbedeutende Einzelne kann dadurch in eine Rolle geraten, derer er sich weder bewusst noch gewachsen ist. Er ist Narrator und Handelnder zugleich, wenn er ein Posting absetzt, das durch Zufall Gehör findet. Mit „Gehör finden“ meine ich allerdings nicht – wie schon vorher beschrieben – unbedingt eine große Reichweite. Es müssen nicht viele lesen, entscheidend ist, wer es liest!
Ein Gedanke, der in die Welt gesetzt wird, in dem er formuliert wird, ist da. Er ist Bestandteil unserer Welt, ob uns das gefällt oder nicht – und damit ist er auch leider nicht mehr wegzudenken.
Nachdem wir den 10. Breitengrad überschritten hatten, setzte die Strömung zu unseren Gunsten wieder ein. Seither machen wir konstant 6,5 – 7 kt in einer ruhigen Lage.
Es ist kühler geworden. Der Wind ist gleichmäßig und fühlt sich wie Samt an auf der Haut. Es wird später dunkel, die Farben sind unglaublich, The Wind Cries Mary röhrt Jimmy Hendrix. Wir kommen in die Karibik.