Quer ab liegt Barbados und strahlt wie ein UFO. Das erste fremde Licht seit zwei Wochen. So schnell, wir die Insel auftauchte, verschwindet sie auch wieder und als der Morgen in unserem Heck kommt, beginnt vor uns aus der Dunkelheit und den Wolken, die den Horizont berühren, ein anderes Eiland seine Umrisse zaghaft preiszugeben. An den Pitons weithin erkennbar Saint Lucia.
Es muss Anfang der 1970er Jahre gewesen sein, ich war noch ein Kind. Mein Stiefvater fuhr einen roten Opel Rekord 1900 und meine Mutter einen weissen NSU mit Wankelmotor und einem Radio mit automatischem Sendesuchlauf. Es war die Zeit, als die erste Ölkrise aufkam. Um Treibstoff zu sparen, musste sich jeder Autobesitzer einen Wochentag aussuchen, an dem er das Auto nicht bewegen durfte. Diesen Tag musste er mit einem entsprechenden Aufkleber an der Windschutzscheibe bekanntmachen. Zuwiderhandlung wurde teuer bestraft. Die Ölkrise war das Corona der Benzinbrüder des 20. Jahrhunderts.
Zeitgleich und geradezu logischerweise drängte die Debatte über die friedliche Nutzung von Kernkraft als alternative Energiequelle in den öffentlichen Diskurs. Meine Mutter war verzückt von dem Gedanken, so ein kleines Atom unter die Motorhaube ihres NSU zu stecken und dann nie wieder tanken zu müssen – vor allem aber endlich wieder an jedem Wochentag mit dem Auto fahren zu dürfen!
Ich war klein, verstand eigentlich nichts, aber die Vorstellung meiner Mutter gefiel auch mir.
Ob Bruno Kreisky eine ähnliche Vision von der Atomkraft hatte, weiß ich nicht. Wie auch immer, er plante den Reaktor Zwentendorf.
Der Rest ist Geschichte.
Mit meinem Heranwachsen inhalierte ich auch die Widerstandsbewegung gegen die Atomkraft, die Demos in Deutschland verfolgte ich atemlos. Es ging richtig zur Sache, die Auseinandersetzungen wurden von beiden Seiten – dem Staat wie seinen Widersachern – hart und teilweise gewaltsam geführt. Wie die meisten von Euch stand ich auf der Seite der Widersacher, war erzürnt. Jede besetzte Landebahn, jeder blockierte Transport – wir waren gegen die Regierenden. Wir wussten es nicht, denn bis auf eine Handvoll Physiker verstand es niemand auf der Welt – wir fühlten, dass falsch war. Wir glaubten, dass es falsch war. Es war die Geburtsstunde einer neuen politischen Kraft, die heute in Österreich und vermutlich schon nächstes Jahr in Deutschland in der Regierung sitzen wird.
Das Establishment schüttelte angewidert den Kopf über die langhaarigen Spinner in ihren Natojacken und diesen gelben Aufklebern – übrigens das vielleicht hässlichste und zugleich erfolgreichste Logo der letzten Jahrzehnte.
Eine Erzählung hatte begonnen. David gegen Goliath. Es ging – und geht – um nichts geringeres als die Rettung der Welt. In dieser Erzählung ging es nicht um viel, es ging um alles.
Die Volksabstimmung in Österreich ging hauchdünn aus. Jugendlichen wie mir, die noch nicht wählen durften, war es gelungen, ihren Eltern ein „Nein“ abzuringen. Ich erinnere mich an die stundenlange Gespräche im Wohnzimmer unserer Gemeindebauwohnung in Kagran. Das überzeugende Argument, mit dem ich die Schlacht gewann, war: „Es geht schließlich um meine Zukunft.“ Das verstand sogar meine Mutter, die sich zähneknirschend von ihrem atomgetriebenen NSU verabschiedete.
Hätten die Demonstranten, unsere Helden, das Parlament gestürmt oder den damals noch in Bonn angesiedelten Bundestag, wären in Kreuzberg wieder die Molotowcocktails geflogen – ich hätte gejubelt. Und Ihr hättet es auch.
Wir sollten unsere Standpunkte gelegentlich durch Perspektivenwechsel überprüfen. Wir sollten uns fragen, ob wir heute das bourgeoise Establishment sind oder noch immer die, die für die Rettung der Welt kämpfen. Wir sollten unsere eigene Überheblichkeit überdenken, wenn wir postulieren, was richtig und was falsch ist, wenn wir anderen vorschreiben wollen, wie sie zu leben oder was sie zu denken haben.
Wir sollten jenen misstrauen, die sich selbst vertrauenswürdig nennen. Wir sollten darauf achten, dass diese Medien nicht zu lange unter demselben Management stehen – denn sonst gehen sie den Weg der „Prawda“. Wir sollten darauf achten, die Erzählung mit überraschenden, positiven Wendungen zu bereichern – das liegt an uns, wir haben es in der Hand. Doch wenden können wir nur, was verkehrt da liegt.
Wir sollten die anderen Meinungen und Sichtweisen hören und ernst nehmen, so absurd sie uns auch erscheinen, so sehr sie den eigenen widersprechen. Es sind dies die wichtigen Bausteine der Erzählung, die wir schreiben wollen. Und andererseits sollten wir an die Langhaarigen in den Parkerjacken denken, die den Wasserwerfern der Polizei getrotzt haben.
Das letzte Mal, als ich in der Karibik war, war ich noch ganz in den Diensten des Mainstreams – und mit Sicherheit Teil dessen, was man Establishment nennt. Doch dazu später.
Das Druckwassersystem spinnt. Schlussendlich habe ich den Wasserfilter ausgebaut, aus zwei alten eine brauchbar Pumpe gebastelt, und jetzt haben wir wenigstens soweit fließendes Wasser, dass wir uns vor der Ankunft duschen können. Wir werden an der Südspitze von St. Lucia, dem Cape Moule a Chique, in den Windschatten der Insel und von dort aus an den Pitons vorbei zu der im Norden gelegenen Rodney Bay segeln. Im ruhigen Wasser der Westküste muss Klarschiff gemacht werden, die Kabinen wieder bewohnbar gemacht werden. Auf der Langfahrt schlafen wir ja an Deck oder im Salon. Das Deck muss aufgeräumt und alles zum Anlegen hergerichtet werden. Wir hoffen, dass der PCR Test rasch ausgewertet ist – über die Tatsache, dass wir Corona – negativ sind, herrscht ohnehin kein Zweifel.
Unser Energiemanagement hat sich mit den neuen Solarpanelen deutlich verbessert. Der Großeinkauf war mangels eines genauen Speiseplans – das ist ja bekanntlich etwas für Spießer – zwar viel besser als im Jänner auf den Kap Verden, aber noch immer etwas chaotisch. Den Handelskrieg mit China in Sachen Reis gewinnen wir noch immer, und auch was Zwieback angeht, ist mit uns nicht zu spaßen, ganz zu schweigen von den Olivenölreserven, die wir aus dem Mittelmeer mitgenommen haben.
Obst und Gemüse waren qualitativ in Brasilien viel besser. Kartoffel und Zwiebel haben praktisch 2 Wochen problemlos gehalten, auch Äpfel und Birnen, während die Frischware, die wir im Jänner in Mindelo gekauft hatten, mit Ausnahme der Äpfel nach 8 Tagen eigentlich kaputt war. Wir haben auch noch immer eine unreife Avocado und die Tomaten haben erst vorgestern das Ende ihrer Haltbarkeit erreicht. Die Menge war so bemessen, dass wir nur zwei Paradeiser wegwerfen mussten. Außer Erbsen und Karotten und ein bisschen Fruchtsalat, haben wir von unseren Konserven nur drei Tomaten- und ein paar kleine Thunfischdosen verbraucht. Wir haben also die meiste Zeit frische Sachen gegessen. Aufgefallen ist zudem, dass wir gelernt haben, die Mengen unserem Bedarf anzupassen. Wir haben selten mehr gekocht, als wir gegessen haben, und wenn, dann war nur ein kleiner Happen übrig geblieben, den eine von uns später zwischendurch verputzt hat.
Vor allen Dingen der Umgang mit den Mengen erfüllt mich mit großer Zufriedenheit. Die ständig übervollen Teller, ständig zu üppigen Portionen gehören zu den Dingen, die nicht nur meiner Gesundheit schaden, sondern eigentlich auch nerven. Das miteinander Essen ist meist zu einem Rahmen verkommen, um andere Dinge zu besprechen, die Zeit der Nahrungsaufnahme produktiv zu nutzen – von der viel zitierten Genüsslichkeit des gemeinsamen Speisens ist – zumindest in meinem Leben – wenig geblieben. Und last but not least haben wir bei einer deutlich längeren Fahrzeit eineinhalb Säcke Müll weniger produziert – das ist die Hälfte dessen, was wir bei der Atlantiküberquerung hatten!
Bei der Vorbereitung hatte ich zu sehr auf die Windverhältnisse geachtet und die Problematik der Strömung vernachlässigt. Wäre mir dieser Fehler nicht passiert, durch die äquatoriale Gegenströmung zu wollen, hätten wir wohl einen Tag einsparen können.
Dennoch würde ich die alternative Route entlang der Küste, wo die gute Strömung am stärksten ist, mit einer kleinen Crew nicht wählen. Das umschlagende Wetter, Squalls, die zu Gewittern werden, das seichte Wasser vor der südamerikanischen Nordostküste, die Fischerboote in der Nacht und zuletzt zwei der größten Ströme der Erde, die hier ins Meer münden, sind allesamt Umstände, denen man sich mit einer voll besetzten Crew und permanenter 2-Mann-Wache stellen kann. Nicht aber zu zweit. Radar und Autopilot sind für uns wichtigste Helfer.
Auf unserer Route sind einige wenige Frachter begegnet, gerade genügend, um Gewissheit zu haben, dass wir nicht allein sind. Die Fischer vor Trinidad waren eine fast willkommene Abwechslung, aber nach einer Stunde war dann auch wieder gut mit dem vielen Verkehr.
Außerdem haben wir auf diesem Kurs natürlich den nördlichen Passatwind in einem optimalen Winkel erwischt, was uns die letzten Tage ein phänomenales Tempo bescherte. Wären wir weiter im Westen bei den Inseln, müssten wir viel steiler am Wind segeln und hätten nun die Strömung nicht in unserem Rücken, sondern querab.
Die Sache mit dem Spinnaker war ein dummer Fehler, der mir im Februar vermutlich nicht passiert wäre. Ich war zu ungeduldig, hatte die Zeit im Auge, Termine, Korsette. Wir sind ja sozusagen Vollgas aus Wien in diese Langfahrtetappe gegangen. Im Jänner waren wir zuvor schon über ein Monat unterwegs und entsprechend geerdet, ehe wir den Atlantik überquerten. Das werde ich mir wohl merken, die Blasen und teilweise tiefen Wunden an meinen Händen werden mich jedenfalls noch eine Zeit lang daran erinnern.
Der kleine Satelliten Tracker, der Euch unsere Position übermittelt und es uns erlaubt, mit Euch via Kurztextnachrichten Kontakt zu halten, war eine wirklich gute Anschaffung. Auch wenn es vielleicht nicht den Anschein hat, aber wir vermissen Euch trotz allem auch – und es tut gut ab und an von Euch zu lesen. Zweifelsohne ein großer Vorteil der globalen Vernetzung! Andererseits habe ich natürlich auch wieder darüber nachgedacht, wie es wäre, wenn wir ein Satelliten Telefon und/oder Modem dabei hätten. Klar, wir könnten die komplexen Wettervorhersagen selbst abrufen und müssten den lieben Max nicht so strapazieren. Aber wir müssten auch jeden Tag E-Mails lesen – und bearbeiten. Korrespondenzen erledigen zwischen zwei Squalls, der Reparatur einer Wasserpumpe oder dem Umbau der Segel?
Bei den Pitons, wo unser Kurs der Leeküste entlang nach Norden verläuft, streichen wir die Segel. Wenig später dreht der leichte Wind gegen uns und wir motoren dieser unfassbar schönen Insel entlang, entdecken das Hotel, in dem ich Anfang der Neunzigerjahre gewohnt hatte, allerbeste Lage, als man für Werbespots noch in die Karibik flog. Es ist nicht heiß, es ist nicht kühl. Der Wind gerade so stark, dass er die Schweißtropfen schneller Bewegungen noch in ihrem Entstehen vertreibt. Karibik. Jetzt sind tatsächlich hier. Es wirkt ein bisschen – unwirklich.
Besteht die Wirklichkeit aus den Dingen, die wir tun, oder aus jenen, die wir anfassen können, aus dem, was wir sehen, oder was wir fühlen, was wir wissen – oder was wir glauben? Was wir fürchten oder träumen? Findet die wochenlange Fahrt über den Ocean tatsächlich im Außen statt, oder ist sie nicht vielmehr eine Reise durch jenes unentdeckte Land, das sich in Dir selbst befindet – oder ist das am Ende dasselbe?