Engel auf der Spielzeuginsel
Im Schritttempo geht es auf einer schmalen Fahrbahn zwischen halbhohen Steinmauern hinter einer Herde weißer Kühe, die auf dem Weg zu ihrer Weide sind. Mein Gott, viel schneller fährt man hier sonst auch nicht und trotzdem sind alle Wege in einem Tag erkundet!
Neun Seemeilen misst das Eiland in der Breite, sieben von Nord nach Süd. Die Insel ist zwar vulkanischen Ursprungs, aber selbst kein Vulkan, was sie vom Rest des Archipels genauso deutlich unterscheidet wie ihre weit südlichere Lage. In den steileren Landschaften im Nordosten, rund um den Pico Alto, dem einen hohen Berg, finden sich in terrassenförmig angelegte Anbau- und Weideflächen. Kleine Landwirtschaften, die sich über die Hügel und Senken hinweg verteilen, verwandeln die Insel in eine Spielzeuglandschaft, die eine heile Welt fernab der Hysterie behauptet. Majestätisch überblickt der Leuchtturm “Farol de Gonçalo Velho” die weiten des Wassers im Süden, während oben im Norden noch die letzte Dünung der aus dem Golf von Biskaya abgezogenen Stürme vor einem winzigen Ort anbrandet, der den Namen »Anjos« trägt: »Engel«.
Der rote Stift, mit dem der Weg der Europa auf dem »Übersegler«, der großen Karte des Atlantik, eingezeichnet wird, muss erneuert werden. Bei der Gelegenheit findet sich im Papiergeschäft letzten Endes doch noch eine kleine Auswahl an Emblemen für die »Galerie der schönsten Inseln«. Die beiden großen Supermärkte daneben versorgen die rund fünfeinhalbtausend Einwohner mit allem, was sie brauchen, während von der Kirche herunter eine Gruppe Volksschulkinder kommt, denen zwei Lehrerinnen offenkundig die Geschichte ihres Zuhauses vermitteln. Gerade als der Verdacht keimt, vielleicht an einem Ort ohne China – Shop angekommen zu sein, tut sich der »Hipermarket Santa Maria« hinter einem unscheinbaren Portal auf, wo sich der Geruch von Kunststoff, Haushaltswaren und Kunstfaserkleidung mit Reinigungsmitteln, Werkzeug, Barbiepuppenplagiaten, Glühbirnen und Tupperware vermischt, kurzum mit all den praktischen Kleinigkeiten, die auch der Europa auf ihrer weiten Reise verlässlich gute Dienste erweisen.
»Ja.«, antwortet der junge Mann vom Autoverleih, »Ich lebe in Vila do Porto.«. Nach einer kurzen Pause fährt er ungefragt fort: »Die Insel bietet meinem Leben Qualität.«
Dann breitet das Meer ein seidenes Tuch immer weiter nach Süden aus, nur an wenigen Stellen vermag ein Luftzug es zu bewegen. Einen Tag und mehr wird die Maschine das Schiff durch derart ruhiges Wasser gegen Osten schieben, ehe langsam an der Ostseite des Hochdruckgebiets ein Wind aus Nordosten einsetzen wird. Vier Tage und drei Nächte wird die Passage dauern. Nun also auf nach Funchal.