Auf der anderen Seite
Die abenteuerliche Durchquerung des Azorenhochs wirft viele Fragen auf. Heute wissen wir um dieses, wie um alle anderen Wettersysteme, kennen ihre Gesetzmäßigkeiten und wodurch diese ins Wanken kommen. Wir wissen, wie sich die Winde drehen, wo sie stark, gar stürmisch werden, wo die Flauten warten wie tödliche Spinnen, wir können erstaunlich genau Wetter vorhersagen und die Kommunikationsmittel der Gegenwart erlauben es uns, die jeweils neuesten Berechnungen zu erfahren – und zwar wo immer wir sind, und wann immer wir wollen.
Wie aber muss das vor vielen Jahrhunderten, mancherorts sogar Jahrtausenden gewesen sein, als die Menschen in See stachen, weil sie gerade einmal einen kleinen Teil der Mechanik des Firmaments zu erkennen geglaubt hatten? Weil sie von einem Land auf der anderen Seite des Wassers, das bis über den Horizont hinaus reichte, geträumt hatten? Wie muss es den Seefahrern ergangen sein, die ohne das Wunderwerk „Motor“ in den Flauten dieses Hochdruckgebiets gefangen waren, und die, wann immer sie Grund zur Hoffnung hatten, diese verlassen zu können, auf die harten Kreuzseen trafen, die ihr Schiffe in immer andere Richtungen warfen? Vielleicht erahnten sie an Feuchtigkeit und Wolken, mit welchem Phänomen sie es zu tun hatten, aber sie konnten keine Ahnung haben, wie weit die Ausdehnung eines solchen Gebiets war.
Die meisten Phänomene und Faktoren, über die wir uns heute wissenschaftlich austauschen, lagen in den Jahrhunderten der Pioniere in den Bereichen der Mystik und der Metaphysik, so manches “Wunder” wurde mit dem Zorn der Göttern erklärt, und nicht mit einem Wind, der harte Wellen gegen eine Strömung aufwirft. Nach und nach wurden die Mysterien studiert, entdeckt und decouvriert, immer freilich, um hinter einer Erkenntnis ein neues Mysterium zu entdecken.
Aus den Seefahrern gingen die Luftfahrer hervor, die mit unglaublichem Wagemut die Lüfte eroberten, und aus diesen schließlich die Sternenfahrer, die noch an den Gestaden des Universums stehen und zaghaft, aber nicht minder entschloßen ihre Zehen in eine neue, wieder unbekannte Unendlichkeit stecken, die nicht einmal mehr einen Horizont hat, um dahinter – was?! – zu entdecken?
Wenn wir die Zeitspanne Jahrtausende zusammengefasst betrachten, werden wir die vielen Irrwege, die Fehler, aber auch die unglaublichen Errungenschaften und Meisterwerke, die jede Epoche – und nur diese immer für sich – benötigt hatte, um am Ende diesen einen Schritt weiter zu kommen. Und wir werden die Wechselwirkung von Mystik, Kunst und Wissenschaft anders beurteilen.
Das Segeln ist eine Kulturtechnik, die heute vermeintlich keinen Nutzen mehr für die Menschheit bringt, es gibt keine offensichtliche Notwendigkeit dafür. Trotzdem hat keine andere Art der Fortbewegung in den letzten 50 Jahren ihre Geschwindigkeit auch nur annähernd so steigern können, wie das Segeln! Dauerte eine Non-Stop Weltumsegelung Ende der 1960er Jahre noch über 11 Monate, so liegt der Rekord heute bei 44 Tagen! Fertigkeiten, ja ganze Gewerke, die keinen Sinn erfüllen oder aufgrund anderer Technologien obsolet geworden sind, verschwinden normalerweise leise, oder erhalten einen Platz in einem Museum. Dabei sind für unser Weiterkommen unsere Fehler, seien sie noch so katastrophal gewesen, von exakt demselben Wert wie die Genieblitze! Was wir aber nicht mehr brauchen, lassen wir zurück.
Dennoch praktizieren wir das Segeln seit fast 200 Jahren weiter, obwohl man keinen Sinn am Erhalt einer Technik erkennt, deren Aufgaben von Dampf- und Motorschiffen, atomgetriebenen U Booten, Düsenjets und Überschallflugzeugen übernommen wurden, und im Lichte dessen, dass die zum Himmel stürmenden Raumschiffe die Gewürzflotten der nächsten Generationen sein werden.
Es gibt, und das ist der Schluss aus diesem Gedanken, hier draussen für uns offenbar noch etwas zu entdecken. Vielleicht gibt es noch etwas Wichtiges zu lernen, bevor einen nächsten Schritt tun können – über uns selbst, über unsere Existenz, oder vielleicht über das Mysterium unserer sich über Raum und Zeit hinweg setzenden Verbundenheit?
Segeln – und nicht nur das – dürfte so etwas sein, wie der Hang zurück zur begreifbaren Einfachheit in einer Welt voller Orientierungslosigkeit. Das Wetter, das Meer, die Segel, das Steuer, der Skipper: Da kann man sich orientieren, das ist durchschaubar. Ein Smartphone kann benutzt, seine Technik aber kaum mehr begriffen werden. Die mediale Flut kommt daher und desorientiert jeden, der in sie eintaucht. Wir sind für die Matrix wahrscheinlich nicht geschaffen .
Vielleicht ist nicht nur ein romantischer Hang zum “Zurück” der begreifbaren Einfachheit, sondern vielmehr der Schlüssel zur Begreifbarkeit der von uns für uns geschaffenen Technologien, die uns in diese vollkommen richtig beschriebene Desorientierung treiben. Andererseits waren und werden wir immer in der Lage sein, uns anzupassen – das ist die Evolution des Menschen: Wir reagieren dabei immer weniger auf Zufälle, sondern passen uns an eine von uns selbst geschaffene, immer neue Wirklichkeit an. Wir legen uns selbst die Latte, wir schaffen uns die Probleme, an denen wir wachsen. Unsere Gegenwart befindet sich am Ende der Epoche “Digitalisierung”, die Technologien, wie von Dir im Smartphone zitiert, sind mangel- und fehlerhaft und sie reichen nicht mehr aus, um uns zu einem nächsten Schritt zu befähigen. Es ist – Schnee von gestern!
Faszinierend ist hier das Entwicklungspotential in unser beider Bereich: Die digitale Fotografie ist längst an ihrem Ende angekommen und muss heute mehr denn je erkennen, dass sie über die Barriere der Nullen und Einsen nicht hinauskommt, weil weder Bewegung noch die Schwingung zwischen den beiden Teilen darzustellen vermag. Egal wieviele “K” Auflösung auf einen Chip gepackt werden: Ein Rundung wird in der Digitalfotografie aus “Sägezähnen” hergestellt. Je mehr davon, desto weniger erkennen wir es und unser Gehirn hilft es den Mangel zu überwinden, aber es ist einfach, was es immer war: Eine Krücke.
Das Segeln hat seine geradezu unfassbaren physikalischen Fortschritt (Geschwindigkeit) in den letzten 5 Jahrzehnten maßgeblich der Digitalisierung zu verdanken. Und die Digitalisierung ist/war ein Hilfsmittel, eine Verbundenheit unter den Menschen nicht nur darzustellen, sondern auch aus dem Bereich der Mystik in die Wirklichkeit zu holen und jederzeit anwendbar zu machen. War der Wikinger einsamer, oder bin ich weniger allein, nur weil ich ein Satellitenkommunikationsmittel an Bord habe? – Ich meine: Nein. Wenn es uns aber gelingt, irgendwann diese Verbindung, diese Verbindbarkeit abseits der heute erkannten Technologie zu entdecken, dann werden wir eine neue Technologie erforscht haben.