Date: 10. Juni 2022 um 06:17:55 GMT-3
Location: 34.95°N, 60.65°W
Durch Nacht und Wind
0600
Die Nacht ist ruppig. Bereits zu Sonnenuntergang um 2300 habe ich ein Reff eingezogen. Der Wind hatte aufgefrischt und wurde böig. Die Hoffnung, dass dies nur an einigen tiefen Wolken liegen könnte, unter denen sich immer Windzellen bilden, verblasste bald. Mit den Windstößen begann der Wind auch immer wieder ein wenig zu drehen, der Kurs schwankte um bis zu 10 Grad in jede Richtung. Strömungen und Veränderungen im Meeresboden werfen immer wieder seltsame, harte Wellen aus Richtungen auf, aus denen eigentlich keine Wellen sollten. Kreuzseen. Der Schlaf war marginal.
Mit Antritt meiner Wache um 0300 ziehe ich ein nächstes, deutliches Reff ins Großsegel und ein weiteres in die Fock ein. Dennoch machen wir bis zu sieben Knoten, das Schiff liegt wenigstens etwas ruhiger. Doch die Kreuzseen machen uns zu schaffen. Unvermutet donnert der Bug in eine Wasserwand, im nächsten Moment prasselt die aufspritzende Gischt übers Deck. Dann kracht eine Welle von Steuerbord seitlich mit einem dumpfen Schlag gegen den Rumpf. Genauso schnell herrscht wieder Ruhe und die Europa pflügt in maßvollen, bedächtigen Bewegungen durch die mächtigen Wellen. Gerade entspannt sich der Körper, da schlägt, diesmal vom links unten eine Welle gegen den Rumpf. Was nicht fest verstaut ist, kracht in den Stauräumen zusammen, einmal, zweimal, vielleicht ein drittes Mal: Dann haben die meisten losen Dinge einen festen Platz gefunden, so oder so. Die nächste Böe lässt das Schiff anluven, die Europa rollt mit 7 Knoten über einige Wellenkämme. So geht das nun seit
Stunden. Andreas schläft tief auf der leeseitigen Bank im Salon. Knapp 1300 Meilen, die zuerst durch den Golfstrom und jetzt über den New England Seamount führen, wie das Unterwassergebirge unter uns heisst, haben aus dem Küstensegler einen abgebrühten Offshore Matrosen gemacht. Gottseidank, muss man sagen, alles andre wäre weniger vorteilhaft.
Die Wolken haben sich verzogen, der Mond ist vor wenigen Minuten untergegangen. Schlagartig ist die silberne Nacht stockdunkel, über dem schwarzen Meer wölbt sich die Milchstrasse. Bald wird die Sonne vor unserem Bug aufgehen.
1200
Unser Etmal betrug 150nm.
1330
Einige Stunden geschlafen. Wir liegen gut, sind aber zu langsam. Wir nehmen einiges an Reff raus, so dass wir wieder deutlich über 6, fallweise 7 Knoten machen. Am Morgen haben wir einen Frachter Richtung Westen gesehen, am Abend überholte uns einer Richtung Osten in 5 Meilen Entfernung. Nun habe ich ein Segel am Horizont entdeckt, keine Ahnung, wie lange das schon da ist. Es dürfte sich um ein etwas größeres Boot handeln, das uns im Laufe dieses oder des nächsten Tages überholen sollte. Zweifellos kommt es von Bermuda, und auch sein Ziel ist klar: Horta, Azoren.
1530
Nachdem wir die Reffs aufgemacht haben, fliegen wir mit 7-8 Knoten über Grund über die Wellen, die in guten 5 Windstärken brechen. Das Segel, das am Horizont aufgetaucht war, ist dabei, dort wieder zu verschwinden. Natürlich haben wir ziemliche Lage, das leeseitige Laufdeck schöpft in Böen Gischt. Aber anders als in der Nacht ist Bewegung des Wassers nun harmonisch, es sind keine Kreuzseen zu spüren. Selbst wenn die Wellenkämme weiß brechen, soweit das Auge reicht, läuft die Europa in runden Bewegungen.
1700
Die Abfrage der neuen Wetterdaten bringt keine großen Überraschungen. Vor Neufundland wird sich in den nächsten Tagen ein Tief bewegen, das könnte uns günstige, aber starke Winde bringen. Wenn wir allerdings nur annähernd unsere Geschwindigkeiten halten, kommen wir davor weg. Das Hoch aus dem Süden, das uns jetzt den Wind macht, wandert ein Stück weiter nördlich. Wir müssen aufpassen, nicht in eine Flautenzone zu geraten.
In zwei Stunden wird die Sonne untergehen und die dritte Nacht auf See beginnt. Es hat sich eine Routine an Bord etabliert. Abläufe und Wachen funktionieren. Es ist viel zu früh, um Prognosen oder Hochrechnungen anzustellen, was unsere Ankunft angeht, aber wir kommen gut voran.
Date: 11. Juni 2022 um 02:55:37 GMT-3
Location: 35.90°N, 58.18°W
# Der 4. Tag
0300
Die Nacht ist wolkenlos, das Meer gleicht einem samtenen Tuch, das im Wind wogt, während der Mond einen silbernen Streifen darauf zaubert. Rhythmisch rauschend gleitet der Rumpf durchs Wasser, begleitet vom leisen Zischen der brechenden Bugwelle. Am weiten Horizont ist kein Licht zu sehen, kein Schiff weit und breit.
Über einen Ozean zu segeln, ist immer eine Reise durch die Seele.
Die Seefahrt ist, nehme ich an, beinahe so alt wie die Kulturgeschichte selbst, und es gibt noch immer so viel Unerklärtes. Heute wissen wir beispielsweise, dass die Steintempel auf Malta mehrere tausend Jahre alt sind. Der Glaube, die Religion dahinter sind uns aber weitgehend unbekannt. Wir wissen, dass die enormen Obelisken, aus denen die Tempel gebaut wurden, aus Sizilien stammen. Wie es den Menschen damals möglich gewesen sein soll, diese übers Wasser von der einen auf die andere Insel zu transportieren, wissen wir aber bis heute nicht. Aber anders als mit der Fähigkeit, Schiffe zu bauen, die eine solche Tragfähigkeit hatten und ohne die Kunst der Navigation, auch wenn die Distanz mit guten 40 Meilen vergleichsweise gering ist, kann es wohl nicht funktioniert haben! So sehr wir darum ringen, unsere Welt durch Fakten zu erklären, rational zu begreifen und erforschen, so sehr müssen wir erkennen, dass Neugier ein Gefühl ist und letztendlich Emotionen nicht nur unse
re Kommunikation, sondern unsere Realität bestimmen – uns über Ozeane, durch die Lüfte und mittlerweile schon durch All treibt.
Die Auswertung der neuesten Daten von gestern zeigt, dass wir nun doch auf einem Nordost Kurs bis nahe an den 38. Breitengrad heran steuern müssen. In der Nacht von Sonntag auf Montag sollten wir auf für uns günstige Strömungen treffen und das Hoch an Steuerbord so umfahren, dass wir in etwa die jetzigen Bedingungen beibehalten sollten.
0830
Sonnenaufgang beinahe im Nordosten. Eine ruhige Nacht in guter Fahrt. Es ist milder geworden, die Luft feucht, das Deck nass.
1400
Wir haben wieder gute 5 Bft aus ziemlich südlicher Richtung. Bisweilen schieben sich Wellenberge von hinten kommend unter dem Schiff durch. Andreas müht sich damit, das Schiff von Hand zu steuern. Dieser Kurs ist die beste Übung, der Steuermann ist gefordert. In seiner Freiwache wird er gut schlafen.
1600
Wir haben nun einige Stunden von Hand gesteuert, um den Solarpanelen die Möglichkeit zu geben, die Batterien gut zu laden. Der hohe Sonnenstand und die vielen Tageslichtstunden des Juni helfen dabei.
Auf der Nordhalbkugel, ich hatte es in den Einträgen zur Vorbereitung erwähnt, drehen sich die Winde um Hochdruckgebiete antizyklonal, also im Uhrzeigersinn – im Gegensatz zu den „Tropical Cyclones“ und Hurricanes. Die Hochdruckgebiete zwischen Azoren und Bermuda sind wetterbestimmende, feste Größen, auch wenn sie ihre Lage andauern verändern. Es drehen aber nicht nur die Winde, sondern klarerweise auch die Wasserbewegung an der Oberfläche.
Eben sind wir durch ein Feld von Algen gefahren, die dergestalt um das Zentrum des Hochdruckgebiets treiben. Aber nicht nur Algen, sondern auch Müll, vornehmlich Plastik ist zu sehen und es wird mehr, je näher wir an das Hoch herankommen. Was für eine Schande.