Date: 12. Juni 2022 um 02:38:25 GMT
Location: 37.60°N, 52.46°W
Yoga for Yachtsmen
0200 [N36•56 W055•26]
Gestern Abend die neuen Wetterdaten ausgewertet. Drehten gegen Osten. Das Tief, das zwischen Nova Scotia und Neufundland vom Kontinent herunterkommt, hat einen vorhergesagten Kern von 1005hPa. Das kann – in unserem Gebiet – Winde um bis zu 30 Knoten verursachen. Dienstag soll es eine Lage haben, die uns möglicherweise betrifft. Gleichzeitig weicht „unser“ Hoch nach Südosten aus, und wird bis auf den 31. Breitengrad zurückgedrängt. Daraus ergeben sich neue Parameter. Erstens können wir nun fast geradewegs gegen Osten auf unser eigentliches Ziel zu, dem wir uns dann aus Südwesten statt wie bisher geplant aus Nordwesten nähern. Das Wichtige ist aber, dass das böse Tief um Neufundland einen Haken schlagen und Richtung Grönland abziehen soll. Wir wären somit im südöstlichen Quadranten des zyklonalen Systems. Klingt alles ein wenig trocken und verwirrend, die Hardcore Logbuchleser werden aber wissen: Der südöstliche Quadrant eines zyklonalen Tiefs auf der Nordhalb
kugel ist nicht unbedingt der beste Platz! Andererseits: Was soll man machen?
Wir entscheiden uns dafür, gemessen am Tief soweit als möglich im Süden zu bleiben. Je weiter weg wir sind, desto schwächer fallen die Winde aus. Zu weit in den Süden dürfen wir allerdings auch nicht, dort wartet die Flaute des Hochdruckgebiets, welches sich hinter dem Tief wieder nach Norden ausbreiten wird.
Noch sind es zwei Tage, bis diese Wettersituation eintritt. Die Prognosen werden noch die ein oder andere Korrektur mit sich bringen, wie wohl sehr große Änderungen nicht mehr zu erwarten sind. Das Anmieten des Satellitentelefons hat sich jedenfalls ausgezahlt. Ohne diese Infos wären wir wahrscheinlich noch auf einem deutlich nördlicheren Kurs…
Die Kursänderung gestern Abend hat uns eine Nacht in ruhiger Lage beschert. Winde um die 3, manchmal 4 Beaufort mit vergleichsweise wenig Welle treiben die Europa mit guten 7 Knoten über Grund. In unserer Lage ist Geschwindigkeit entscheidend. Je schneller wir nach Osten kommen, desto geringer werden die Auswirkungen des Neufundland-Tiefs. Aus diesem Grund versuchen wir auch einen Ausläufer des Golfstroms zu erreichen, der uns für einige Zeit ein „Turbolader“ sein und uns rund 2 Knoten schneller machen wird. Der Zugriff auf die sich in diesem Gebiet ständig ändernden Strömungen ist übrigens auch Dank nur der Sat Verbindung möglich und wirklich hilfreich!
Ich habe tief und gut geschlafen – und durchaus etwas erschöpft. Der Bolzen am Großbaum war schon wieder dabei, den Sicherungssplint zu durchtrennen. Das leider unvermeidliche Schlagen auf Raumen Kursen setzt ihm zu. Ich vermute, dass die Buchse, in der der Bolzen sitzt, altersbedingt ausgeschlagen ist und der Großbaum sich in den heftigen Bewegungen um die eigene Achse dreht. Ich konnte eine über den Bolzen passende, zusätzliche und im Aussendurchmesser deutlich größere Beilagscheibe finden, die nun einen breiteren Druck auf den deutlich größeren Splint, den ich in Bermuda ergattert habe, ausübt. Auch wird, so hoffe ich zumindest, die zusätzliche Beilagscheibe das Spiel des Bolzens einschränken. Wir werden das weiter beobachten und in Horta einen Rigger konsultieren bzw. mit der Werft oder der Herstellerfirma des Masts Kontakt aufnehmen. Weil wir gerade dabei waren, haben wir auch gleich den verlorenen Schekel an der Dirk provisorisch ersetzen können. Auch diese
r Baustelle werden wir uns auf den Azoren noch widmen.
Arbeiten am Rig in 2 Meter Welle sind extrem anstrengend. Nicht nur das Handling mit Schwimmweste und Lifeline, das jonglieren mit dem Werkzeug und stete Haltsuchen sind ein astreines Workout. Dazu noch einige Male Reff rein, Reff raus und Kochen – da ist man abends rechtschaffen müde.
Beim Zähneputzen – Stirn gegen die Wand überm Waschbecken gedrückt, die Beine derart nach hinten verspreizt, dass keine noch so überraschende Welle einen aus der Position werfen kann und man trotzdem die Hände frei hat – hatte ich den Gedanken, Yoga für Segler zu erfinden. „Yoga for Yachtsmen“ wäre der englische Titel. Da gebe Figuren wie „Zähneputzen in Luv“ oder „Zwiebelschneiden in Lee“. Für die Geübteren: „Ölfilterwechesel“ oder „Die kaputte Wasserpumpe“ – mit dem Bauch am Zylinderkopf des Motors balancieren, während sich das Schiff bewegt und Kraft auf einen Gegenstand ausüben. Für die Profis dann eine Serie verschiedenartiger Verrenkungen mit dem Titel „Die verlorene Schraube“ – ein Ablauf von Bewegungen, die hilfreich sind, wenn kleine Gegenstände runterfallen und Dich in den Tiefen der Bilge zu einem Katz-und-Maus Spiel einladen: Mal am Rücken liegend mit gestrecktem rechten Arm nach dem Objekt tasten, während die Zehen des Lin
ken Fusses sich an einer Kante zu halte versuchen, dann wieder kopfüber in die Tiefen der Bilge hängend. Sehr beliebt auch der „Senkrechte Schraubenzieher“ – immer schön die Schultern weg von den Ohren, Ferse zur Nase und: Aaaatmen!
In ruhigem Wasser und perfekten 3 Bft endet eine erholsame Nacht mit einem roten Streifen am Horizont, der auf Wasser und Himmel die unglaublichsten Farben in einer Art bettet, wie das nur dieser Ozean vermag. Vollendete Schönheit.
1200
Unser Etmal beträgt 151nm. Wir haben 1/3 der Strecke, eine günstige Strömung treibt uns durch einen wolkenlosen Vormittag mit zarten 3 Bft aus SSE.
1400
Neue Wetterdaten. Das wird noch interessant. Das Neufundlandtief bewegt sich wie erwartet und wird uns nicht mehr sehr tangieren. Wir rechnen mit maximal rund 5 Bft auf rauem Kursen. Aber dahinter taucht nun ein neues Tief auf, das von Bermuda kommend mit großem Tempo nach Nordosten zieht. So ein richtiger kleiner, fester Wastl mit 50 Knoten im Zentrum soll am Donnerstag die Gegend durchwandern, in der wir jetzt sind bzw gestern waren. Das bedeutet, dass wir heute Abend die Strömung nach Osten nehmen und zusehen, hier fortzukommen. Kleine feste Wastl Tiefs braucht keiner. Aber unser ursprünglicher Plan, in einem nordöstlichen Bogen zu segeln, ist so hinfällig wie die Zeitung von gestern.
Gleichzeitig bewegt sich das eigentliche Azoren Hoch in den Norden! Keine Ahnung, was es da will!
1800
Es bleibt ein wolkenloser Tag, an dem sich das Meer in weiten, sanften Bewegungen unter den Himmel legt. Die Weite endet an einem Horizont, dessen einzige Aufgabe es ist, die vielen Blau voneinander zu trennen. Wir haben stundenlang Musik gehört, bis nach dem Essen die Batterie vom Handy leer war. Andreas ruht sich für seine Wache aus, die in drei Stunden beginnt. „Unsere“ Strömung nach Osten erreichen wir wohl erst in den Morgenstunden.