Date: 13. Juni 2022 um 03:10:32 GMT
Location: 37.60°N, 52.46°W
Die Nacht der schwierigen Entscheidungen
0300
Der Versuch, die Strömung am 38. Breitengrad zu erreichen, ist gescheitert. Zwanzig, vielleicht dreißig Meilen fehlen uns.
Wir haben die notwendigen Millimeter – gemessen an den Distanzen sind es Millimeter – bereits in den vergangenen Tagen verspielt. Nun hat der Wind auf Süd bzw SSW gedreht, eng anliegend am Hoch. Der Versuch einen Kurs von 70 Grad oder weniger zu laufen, wurde mit schwerem Rollen und erst einfallenden, dann laut schlagenden Segeln bestraft. Selbst das Großsegel hatten wir ganz eingezogen, den Motor dazugeschalten. Keine Chance. Zu wenig Wind bei zu vielen Wellen und die Strömung gegen uns!
Nun haben wir vor knapp einer Stunde den Kurs gewechselt und segeln wieder. Selbst wenn wir versuchen, den Wind so weit als möglich von Achtern zu bekommen, schaffen wir mit Ach und Weh einen Kurs von 95-100 Grad. Ich habe kein Auge zugetan und hoffe, dass wenigstens Andreas schlafen kann. Die achterlich kommenden Wellen sorgen immer noch für heftige Bewegungen. Aber wenigstens ist die Strömung nicht mehr gegen uns!
Was bedeutet das?
Wir sind südlicher als geplant. Wer weiß, wofür das noch gut ist? Immer wieder muss ich mir die Distanzen vor Augen führen. Wir kommen gut voran und liegen auf einem sehr östlichen Kurs. Wenn die Tiefdruckgebiete ab Dienstag durchziehen, werden die Winde wieder drehen. Wir werden zumindest einen reinen Ostkurs schaffen. Dass wir jetzt einen leicht südlichen Kurs mit hoher Geschwindigkeit segeln, bringt uns dafür in eine gute Distanz zu den Tiefdruckgebieten. In der Strömung am 38. Breitengrad hätten wir natürlich bis Dienstag 50, wenn nicht 80 Meilen geschafft, aber 8 Knoten über Grund sind kein Grund zum Jammern.
Ende der Woche wird interessant, was das Azorenhoch machen wird. Es gibt eine gar nicht unrealistische Chance, dass wir vom Süden kommend bevorzugt sind – dann nämlich, wenn das Azorenhoch tatsächlich im Norden bleibt. Das steht jetzt noch in den Sternen. Klar aber ist, dass ein wenig Pech oder eine Fehleinschätzung dazu führen kann, dass wir 400 Meilen motoren oder gar kreuzen müssen. Das könnte die Etappe um einige Tage verlängern.
0730
Unwirklich schleicht sich der Tag unter einer Wolkendecke in eine ebenso unwirkliche Nacht. Fern ist der Lichtstreif an diesem Morgen. Scheinbar unbeeindruckt von unserem Steuerkurs schiebt das Schiff in leichten Winden auf 82 Grad, getrieben von dieser mächtigen Strömung, die uns um 2,5 Knoten schneller macht. Unruhig, ja holprig ist das Wasser bisweilen, durch das wir mit 8 Knoten über Grund gegen Osten fliehen. Golfstrom, Dich möchte ich nicht gegen mich haben.
1200
Etmal 155nm. Das is gut.
1600
Zwei Stunden fand ich wichtigen, schweren Schlaf. Die Sonne ist herausgekommen, der Wind hat ein wenig aufgefrischt. Ein erster Versuch, einen Fisch zu fangen, bleibt ergebnislos. Morgen probieren wir einen anderen Köder.
Die neuen Wetterdaten bringen keine großen Veränderungen. Das Wast-Tief dürfte uns nicht tangieren, das Neufundlandtief wird uns irgendwann etwas mehr Wind bringen, um die 20 Knoten oder knapp drüber, aber nicht mehr. Das ist alles im grünen Bereich und wir sollten nach derzeitigem Stand bis zum Wochenende unseren nun ziemlich direkt Kurs nach Horta halten können. Halten wir das Tempo der letzten Tage, würden das irgendwo zwischen sechs- und siebenhundert Meilen sein, womit wir zum Wochenende ca. 400 Meilen westlich unseres Ziels sein könnten.
Es gibt Limetten-Zitronen-Risotto mit Zucchini und Tomaten, Tricolore, der Italiener in mir ist ausgekommen. Kein Korn bleibt über, wir hatten offenbar Hunger.
Nun beginnen jene Tage der Passage, durch die wir gemessenen, bedächtigen aber steten Schritts wandern müssen. Die Bedingungen haben sich soweit etabliert. Besonders wichtig ist es nun, eine Routine aufrecht zu erhalten. Das genaue Einhalten des Wachplans ist das Korsett dafür. Auch wenn der eine mal gerne noch ein halbes Stündchen länger schlafen würde, und der andere sich fit fühlt, ein halbes Stündchen länger Wache zu schieben – no way. Dabei geht es meiner Meinung nach ausschließlich ums mentale Befinden. Längst ist vergessen, wann wir das letzte Schiff gesehen haben, achthundert Meilen Wasser liegen zwischen Bermuda und uns, knapp tausend sind es bis zu den Azoren. Das nächste Stück Land ist die Südspitze Neufundlands, ganze 530 Seemeilen entfernt – das sind ziemlich exakt 982 Kilometer!
Geist und Psyche sind mehr gefordert als der Körper. Die Schläge der Glasenuhr, die alle Vierstunden wieder von vorne beginnen, mit einem einzelnen Schlag zur halben Stunde, und mit vier Doppelschlägen das Ende der vierten vollen Stunde kundtun, sind erstaunlich einfache und seit Jahrhunderten bewährte Mittel für ein bisschen Halt in einer Welt, in der sich ständig alles bewegt. Nicht dass das an Land nicht auch so wäre, aber da flüchten wir bisweilen in die Phantasie der Beständigkeit, ein Trugbild.
2230
Wir haben gehalst und sind zwei Stunden nach Norden gesegelt auf der Suche nach besserer Strömung. Erfolglos. Wir sind wieder zurück auf unseren eigentlichen Kurs, sollten aber unseren Winkel zum Wind, den wir morgen erwarten, ein klein wenig verbessert haben. 2 Beaufort und ein ruhig gewordenes Wasser lassen mich auf ein wenig Schlaf hoffen bis zu meiner nächsten Wache in vier Stunden.