48° 11.652’N | 16° 21.510’E
Wien
Zeit, Reise
Nach langen Monaten am Trockenen laufen die Vorbereitungen für den nächsten Törn. Die Jahre der Pandemie, die mit ihr verbundenen Restriktionen und unsere wiederholte Flucht in die scheinbar soziale, tatsächlich aber nur physische Distanzierung, all das hatten wir gehofft zu diesem Zeitpunkt überwunden zu haben.
Dem ist nicht so, wie wir uns das alle gewünscht haben. Die mittelamerikanischen Länder sind nach den nur langsam anlaufenden Impfkampagnen noch immer vom Virus gebeutelt, die Sterblichkeitsraten hoch. Unsichere Prognosen und die Angst vor komplizierten Einreiseprozeduren und/oder der Aussicht, wieder tagelang in Häfen festzusitzen und die Länder nicht besuchen zu können, machen die Reisen in diesem Raum schwierig. Aber auch abgesehen von den sich ständig ändernden Bedingungen ist die Lust, ein Land mit hohem Infektionsgeschehen und mangelnden Schutzmaßnahmen zu besuchen, auch für Geimpfte enden wollend.
Man darf allerdings nicht außer Acht lassen, dass natürlich die USA und im speziellen Florida zweifelsohne Länder sind, die einen genauso riskanten, ja fahrläßigen Umgang mit dem Virus praktizieren. Insofern ist die Frage berechtigt, wieso wir uns entschieden haben, vorerst in den USA zu bleiben? – Und auch die etwas überhebliche Haltung der Westeuropäer, sie hätten die Pandemie im Griff, wird Lügen gestraft. Das Infektionsgeschehen ist also nicht der Grund für unseren Verbleib in Nordamerika, wohl eher die Erreichbarkeit und die Erkenntnis, dass die Versuchung, in Panama aus Versehen in den Pazifik abzubiegen, mit unserem Zeitkonto nicht vereinbar ist. Oder kann man sich die Zeit nehmen, die man nicht hat?
Wie auch immer: Ich werde am 29. November nach St. Petersburg, FL reisen, um die “Europa” wieder zu Wasser zu lassen. Das Unterwasserschiff ist dann frisch gestrichen, das Großsegel erneuert. Die Werft hat bis dahin hoffentlich das neue Sonnenverdeck geschickt. Dann gilt es, alle technischen Komponenten zu überprüfen und das Schiff wieder zu verproviantieren. Der “Seebrief”, das Zulassungszertifikat des Heimatlandes, musste ebenfalls erneuert werden und gilt nun wieder 10 Jahre. Das ist eine lange Zeit.
Vom Sinn der Zeitmessung auf See
Bei der im Artikelbild dargestellten Uhr handelt es sich um eine “Schatz Mariner”. Ich habe sie in einer Online Auktion erlegt. Sie hat ein mechanisches Werk, was gut ist, weil unabhängig von Batterien. Das besondere Feature aber ist, dass sie “glasen” kann. Die “Glasenuhr” hat früher auf Schiffen die Wachen eingeteilt.
Die Glasenuhr
Es handelte sich dabei um eine Sanduhr, die alle halben Stunden gewendet werden musste. Mit jeder Wendung kam ein Schlag dazu – also nach einer halben 1 einzelner Schlag, nach einer vollen Stunde ein Doppelschlag, nach zwei Stunden zwei Doppelschläge usw.
Nach vier Stunden, als 4 Doppelschlägen wurden die Wachen gewechselt. Durch das Schlagen der Glocke wusste jeder Seemann, wie spät es war und wie lange er noch Dienst zu tun oder Freizeit hatte. Üblicherweise begann die Zeitmessung um 12 Uhr Mittags. Die entsprechende Uhrzeit war durch die Wahrnehmung der Umgebung klar – Tag, Nacht, Sonnenauf- und Untergang. Es reicht, und das finde ich faszinierend, auf See ein 4 Stunden Intervall, um die Uhrzeit genau zu definieren, während wir an Land eine 12, am liebsten sogar eine 24 stündige Einteilung bevorzugen.
Dieser 4-Stunden Rhythmus hat sich auch bei den Wachschemen durchgesetzt. Und zwar eigentlich überall. Die Vierstunden-Wache wird auf kleinen und großen Schiffen praktiziert und auch auf der EUROPA sind wir am Ende immer wieder dorthin zurückgekehrt.
Die Routine des Glasens hatte aber noch einen anderen Grund. Die Position der von Europa westwärts ziehenden Schiffe konnte nur anhand des Winkels der Sonne bestimmt werden. Dazu wurde um 12 Uhr mittags der Winkel zwischen Sonne und Horizont gemessen und diese Messung genau 24 Stunden später wiederholt. Der Winkel der Sonne hat sich aufgrund der veränderten Position des Betrachters freilich auch verändert – heute würde man dazu “Zeitverschiebung” sagen. War der Winkel nach 24 Stunden beispielsweise um genau 1 Grad kleiner, wusste der Navigator, dass sich das Schiff nun 60 Meilen westlich der letzten Position befand. [1 Grad ≙ 60 Längengradminuten ≙ 60 Nautische Meilen].
Die Längenuhr
Diese Technik wurde vor ca 300 Jahren entwickelt, um das sogenannte “Längenproblem” zu lösen, das die Seefahrt auf der ganzen Welt schon seit langem beschäftigt hatte. Eine exakte Positionsbestimmung war demnach nur mit einer exakten Uhr möglich. Pendeluhren taugten dafür nicht. Die Bewegung des Schiffs im Seegang, aber auch die Erdbewegung selbst störte die Regelmäßigkeit der Bewegung des Pendels der Uhr, die sich auf einem Schiff zudem noch über die Erdobfläche hinwegbewegte, als entweder mit oder gegen die Erdrotation zu kämpfen hatte, und nicht wie bei meiner Tante Anna reglos im Eck stand und brav die Stunden vor sich hin schlug, vorgebend, alles würde so bleiben wollen, wie es gerade war.
Die Lösung mittels der Längenuhr geht auf den englischen Tischler und Erfinder John Harrison zurück. Er hatte bereits 1713 eine erste Uhr mit einer revolutionären Mechanik gebaut, damals noch mit Rädern aus Holz. 1735 stellte er dann seine “H1” vor, deren Lauf erstmals so genau war, dass sie auch wirklich zur Navigation taugte, und sich gleichzeitig ob ihrer Konstruktion auch gegen die Rotationskräfte der Erde wehren konnte. Selbst die Bewegung des Schiff in den Wellen konnten ihr nichts anhaben. Harrisons Erfindung wurde über die Jahre weiterentwickelt und mechanisch verfeinert.
Die EUROPA führt natürlich auch eine solche “Längenuhr” mit sich. Es handelt sich dabei um ein russisches Fabrikat, einen Schiffschronometer der Marke “Morskoi, Kirova, erste Moskauer Uhrenfabrik” welcher angeblich auf einem russischen U-Boot im Einsatz war. Das Werk ist ebenfalls natürlich mechanisch, einmal aufziehen lässt die Uhr 48 Stunden laufen. Ein eigener kleiner Zeiger – der obere – zeigt die verbleibende Zeit bis zum Stillstand an. Die Uhr selbst befindet sich in einem Holzgehäuse, welches keine magnetische Ablenkung der Kompasse bewirkt, und sie ist kardanisch aufgehängt. Dadurch bleibt die Mechnik immer waagerecht, egal welche Schräglagen das Schiff erlebt oder welche Wellenbewegungen abgewettert werden müssen. Und das erhöht wiederum die Laufgenauigkeit.
Die Schatz-Mariner ist zwar auch eine mechanische Längenuhr, aber sie ist nicht kardanisch aufgehängt, sonder für die Wandmontage gedacht. Die kardanische Aufhängung braucht naturgemäß relativ viel Platz, wie auf dem Bild zu sehen ist – und Platz ist ja immer knapp an Bord. Die Schatz-Mariner wird ihren Platz neben dem Navigationstisch bekommen, neben den Funkgeräten und dem GPS, die batteriebetriebene Uhr, die zur Zeit dort hängt, kommt in die achtere Kabine.
GPS und Digitaluhren bestimmen natürlich die moderne Navigation. Dennoch hat sich der 4-Stunden Rhythmus im Schiffs-Wach-System durchgesetzt und auf vielen Schiffen wird nach wie vor “geglast”. Das Wenden des Stundenglases macht man heute nicht mehr, die Mechanik hat das übernommen wie etwa bei der “Mariner Schatz”, oder es übernimmt die Elektronik. Ja, es gibt elektronisch glasende Uhren auch, auch eine App fürs iPad gibt es, die haben wir natürlich auch in Verwendung. Kinder, wie die Zeit vergeht!
Der Unsinn der Zeitmessung auf See
Wissen zu wollen, wie spät es ist, ist ein Wunsch der Zivilisation. Einteilung, Pünktlichkeit – eine Form der Genauigkeit, eine Auszeichnung – und etwas, was in den meisten Fällen Stress bedeutet: Egal ob die Zeit noch nicht gekommen oder schon vergangen ist… darüber könnten wir jetzt stundenlang philosophieren. Man kann es auch profan abkürzen – warum schaut der Seemann nicht einfach auf seine (Armband-) Uhr? Abgesehen davon, dass einer solchen Pragmatik wenig Poesie innewohnt, habe ich auch die Erfahrung gemacht, dass normale, wenn auch qualitätsvolle Armbanduhren nicht für die Seefahrt geeignet sind, sofern es sich nicht um Produkte aus mordenen Werkstoffen handelt, welche auch zum Tauchen verwendet werden. Bei allen anderen dringen die kleinen Salzpartikel selbst in gut verschraubte Gehäuse ein und greifen das Werk an, egal ob es von einer Feder oder einer Batterie betrieben wird. Eine längere Zeit auf See, selbst wenn die Uhr in der Kabine liegt, zieht ein Service nach sich, über das sich Uhrmacher nicht freuen.
Das Segeln hat eine in unserer Zeit besondere Eigenschaft. Es entschleunigt. Man bewegt sich langsam, die Zeit vergeht langsamer. Das hat eine besondere Qualität, die endet, wenn man angekommen ist. Wenn man auf dem offenen Meer unterwegs ist, womöglich einen Ozean überquert, wofür, ausser für die Positionsbestimmung, braucht man eine Uhr? Wenn es hell ist, ist Tag, den Rest der Zeit ist Nacht. Als Gongschlag dient der Sonnenauf- und Untergang. Das endlose Meer, das sich in immer anderen Farben bis an den Horizont streckt, das immer andere Funkeln der Nächte, die Undurchdringlichkeit der Finsternis einer mondlosen Nacht – wo die Bedeutung des Orts nur in sich selbst liegt, ruht die Zeit – vorübergehend.
Die größten Verwirrungen an Bord entstehen durch die Zeitverschiebung. Ich leide immer darunter. Am schlimmsten ist es, wenn nur ein oder zwei Stunden Differenz zwischen Start- und Zielort liegen. Vor lauter Uhrenstellen und Rechnen weiß ich am Ende gar nicht mehr, wie spät es nun wirklich ist! Daher fährt die EUROPA auch immer und ausschließlich nach UTC – Universal Time Code – oder Greenwich Zeit. Egal wo wir sind. An Bord gibt es nur diese Zeit. Nach ihr werden nicht nur unsere Wachen, sondern auch die Sendeschemen der Wettervorhersagen geplant. Wozu aber die Zeit messen, wenn man alleine segelt, wie es auf meiner nächsten Fahrt der Fall sein wird?
Das führt uns zum möglicherweise wichtigsten Aspekt der Zeitmessung auf See: Die Gezeiten. Und diese sind auch für ein kleines Boot wie die EUROPA von essentieller Bedeutung. Aber davon ein ander mal.