Date: 15. Juni 2022 um 02:58:46 GMT
Location: 37.56°N, 45.95°W
Die ganze Nacht eine Dämmerung
0300
Beim Wachwechsel berichtet Andreas von einer Spitzengeschwindigkeit von 9,9 Knoten über Grund. Seit mehr als einer Stunde rollt die Europa stark. Offenbar verschieben sich immer wieder Strömungen zu den mächtigen Wellen, Kreuzseen springen auf. Der Vollmond hinter einem Tüll aus Wolken lässt die Bewegungen des Wassers glitzern. Das Deck ist feucht, ob ein klammer Morgen folgt?
Wir sind nun etwas südlicher als geplant. Das ist der Preis für die etwas bessere Lage des Schiffs und das hohe Tempo, um den notwendigen Abstand zur Starkwindzone zu erreichen.
Spätestens im Laufe des morgigen Donnerstag wird der Wind nach Süden drehen und etwas abflauen. Das verlangt unsere größte Aufmerksamkeit, rasen wir doch auf ein Hochdruckgebiet südlich der Azoren zu. Wir müssen als nächstes so früh wie möglich in den Norden, um in einen richtigen Winkel für die letzten 400 Meilen zu kommen. Das Hoch wird sich zwar auflösen – dahinter aber wartet ein für uns ungünstiger Nordostwind, gegen den wir möglichst wenig kreuzen wollen.
In Abständen schieben sich Stockwerk hohe Wellen unter unserem Heck durch. Der Vollmond verwandelt die Nacht in eine einzige Dämmerung, die dunkeln Wolken verfliegen, blass ist der Große Wagen am klaren Himmel zu sehen. Seit einer Woche sind wir auf See, tausend Meilen weit gereist.
0900
Der Morgen ist klamm. Ein fester Pullover ist nicht zu viel. Die Sonne ist hinter der Wolkendecke, die Feuchtigkeit hält sich hartnäckig. Wir laufen nun 70 Grad nach Ostnordost, ziemlich genau auf den nächsten Wegpunkt, der die oben beschriebenen Kriterien erfüllt und uns in einen guten Winkel für den letzten Abschnitt bringen soll. 465 Meilen werden wir diesen Kurs nun laufen, was voraussichtlich bis Sonntag dauern wird.
1200
Etmal: 186nm
Da haben wir es krachen lassen.
1830
Wir sind jetzt genau zwischen Tief im Westen und Hoch im Südosten. Sechs, in den Böen sieben Windstärken, unter Wolkenkanten kommt noch eine oben drauf. Die Wellen schätze ich auf drei, manchmal an die fünf Meter. In den Böen hat das Schiff seine Rumpfgeschwindigkeit durchs Wasser erreicht (8,5 Knoten), wir müssen also noch einmal das Vorsegel reffen. Mittlerweile haben wir nur noch zwei Taschentücher, wo einst sich einst stolze, weiße Segel im Wind wölbten. Wir werden deutlich langsamer. Aber das Schiff fährt wieder durchs Wasser und stampft nicht mehr wild drehend durch die Wellenberge. Kaum ist das Reffen und Trimmen beendet, lässt der Wind wieder nach. Doch der Blick zum Himmel lässt mich zögern. Noch rauschen Wolken heran, gut möglich, dass in wenigen Minuten die ruppigen Böen zurückkehren. Also warten. 36 Stunden soll das noch gehen.
Ich habe Linseneintopf gekocht. Scheußlich. Allein das Workout mit dem Reffen hat weitere Magenschmerzen verhindert. Andreas hat zwei Teller davon gegessen und standhaft behauptet, es schmecke ihm. Jetzt schläft er tief. Wunderwerk Mensch. Kuriosum Schauspieler.
2030
Die Europa ist getrimmt. Die Wellen messen 3-5 Meter. Einmal auf einen Kamm gehoben, blickt man weit über die Landschaft aus Wasser, die Gebirgsketten formt, mit Tälern und Seitentälern, die in der Sonne glitzern. Die Böen kräuseln das Wasser auf größeren Wellen, die wiederum tanzen auf den mächtig heranrollenden. Eine Zeitlang sitzen wir im Cockpit und betrachten das Schauspiel staunend und voller Respekt.