Date: 16. Juni 2022 um 02:59:07 GMT
Location: 38.22°N, 41.29°W
Nach dem Sturm
0300
Der noch immer volle Mond ist spät aufgegangen, jetzt taucht er die Nacht in fahles, weiches Licht. Noch heult der Wind gelegentlich in der Takelage, gefolgt von einem Pfeifen. Dennoch hat es etwas nachgelassen, die Europa war vor einige. stunden Langsamer geworden. Wir haben ein wenig Segelfläche rausgelassen. Längst geht es nicht mehr darum, wie schnell wir uns fortbewegen, sondern mir noch darum, jene Geschwindigkeit zu finden, bei der das Schiff am wenigsten rollt.
Der Horizont ist einmal fern, dann wieder nah. Es dauert lange, bis das Schiff den höchsten Punkt erreicht hat, von dem aus man für einige Momente über die atlantischen Wassergebirge blocken kann, ehe es wieder bergab geht. Wenn das Boot gut getrimmt ist und man einen guten Platz hat, sind diese Bewegungen majestätisch und rund. Auch schläft man wie in einer Wiege. Einfache Arbeiten unter Deck sind dagegen schwierig,
Andreas war warm angezogen, regelrecht eingepackt. Ich habe mich gleich für ein Thermoshirt und die Ölzeughose entschieden, gerade recht, keineswegs zu warm. Stimmen die Prognosen, so wird der Wind von jetzt 25 Knoten bis zum Abend auf 17 zurückgehen und weiter abflauen auf normale 3-4 Bft. Das Meer wird einige Stunden benötigen und langsamer zur Ruhe kommen. 2100 Meilen haben wir seit Fernandina Beach zurückgelegt.
Nein, es war kein Sturm. Die „Grosse Seemannschaft“, das Standardwerk für deutschsprachige Nautiker, bezeichnet 6 Beaufort (22-27 Knoten Wind) als „Starker Wind“, die nächste Windstärke (28-33 Knoten) als „Steifer Wind“. Erst bei Windstärke Acht wird erstmals von „Stürmischer Wind“ gesprochen, Neun gilt dann als Sturm und die Skala endet bei 12 Beaufort, einem Orkan mit Windgeschwindigkeit jenseits der 64 Knoten.
Aber „Sturm“ ist natürlich auch immer eine subjektive Sache. Für eine kleine 30 Fuß Yacht können bereits 5 Beaufort so herausfordernd sein, dass die Mannschaft mit Fug und Recht von einem Sturm spricht, während eine 60 Fuß Yacht bei derselben Windstärke gerade erst Spaß am Segeln bekommt und der Koch ein raffiniertes Tempura zubereitet. Und dann gibt es den Faktor Seemannsgarn, den man ebenfalls nie unterschätzen sollte. Der kommunikationsfreudige deutsche Skipper, dem ich vor mittlerweile über einer Woche beim Ausklarieren auf Bermuda begegnet war, sprach beharrlich von „Hurricane Alex“. Der Tropensturm war allerdings weit davon entfernt, ein Hurrikan gewesen zu sein. Aber hey, Hurrikan klingt besser, oder?
Wir hatten die letzten zwei Tage starken Wind, im Durchschnitt also 6 Beaufort. Wirft an der kroatischen Adria ein Bora mit 6 Beaufort nicht sehr hohe, kurze, aber dafür unangenehm steile Wellen auf, werden hier draußen, wo tausende Kilometer in jede Richtung kein Land das Wasser behindert, die Wellen entsprechend lang und hoch. Fünf Meter hohe Wellen! Das klingt natürlich toll, und Zuhörer rollen meist die Augen nach oben, wenn sie nach einem Bild suchen, wie hoch 5 Meter wirklich sind. Eine fünf Meter hohe Mauer ragt beinahe zwei Neubaustockwerke in die Höhe, während ein Höhenunterschied von 5 Metern auf einer Länge von 100 Metern von einem Fussgänger kaum wahrgenommen wird – unser Wetterprogramm errechnet dazu eine Wellenlänge von über 170 Metern! Nichtsdestotrotz türmen sich gelegentlich die 5 Meter auch auf engerem Raum zusammen – ich will das nicht herunterspielen – es ist beeindruckend, respekteinflößend und unglaublich schön.
Vielleicht rührt daher die Faszination dieser Berichte? Es liegt im Auge des Zuhörers bzw. Lesers, was er aus den Beschreibungen macht. Ich werde auf Horta auch sicher einige Fotos posten. Aber das ist wiederum anders! Fliegen bereits die Gewürze durch den Salon und sucht man nur noch Halt und gelingt es einem trotzdem noch ein Foto zu machen – auf dem Bild sieht das alles harmloser aus als der sich aufbäumende Schaum in einer Badewanne.
1500
Die Wolken haben sich verzogen. Obwohl noch immer deutlich über 20 Knoten Wind wehen, ist es untrüglich, dass das schlechte Wetter vorüber ist und auch der Wind weiter nachlassen wird. Erstmals seit Tagen ist die Luftfeuchtigkeit nicht mehr so enorm.
Wir sind in den mentalen und körperlichen Mühen der Ebene. Andreas ist fröhlich und gut drauf, wirkt aber ein wenig angeschlagen.Das ist nach den letzten Tagen kein Wunder, auch ich spüre Verschleißerscheinungen. Andreas hat auf seiner Nachtwache trotz warmer Kleidung ein wenig gefroren und über sich selbst berichtet, dass dies wohl auch Zeichen einer gewissen Erschöpfung sei. Bei all dem, ich sage es immer wieder, darf man die psychische Belastung, die mentale Herausforderung nicht unterschätzen. Andererseits hoffe ich, dass ihm die Linsen gestern nicht den Rest gegeben haben. So scheußlich! Heute gibts Pasta. Klare, italienische Hausmannskost, kein neoveganes Linsengesocks.
Ich konnte in meiner Freiwache zweimal ganz gut schlafen. Die Bewegungen des Schiffs sind zwar groß, aber im Salon liegt es sich herrlich. Andreas habe ich dazu gerate, es mir nun gleichzutun. Ich werde erst gegen 1800 UTC kochen. Wir ernähren uns grundsätzlich geradezu vorbildhaft. Viel Obst und Gemüse, wenig Fleisch. Andreas isst zusätzlich morgens eine Art Müsli, aber ohne Milch. Vorhin fragte ich mich, ob er genug Zucker zu sich nimmt?
Es wird nun maßgeblich von unserem Geschick abhängen, wann wir Horta erreichen. Das Fenster für unsere Ankunft liegt nach wie vor zwischen Dienstag und Donnerstag. Kein großer Unterschied, könnte man meinen, wenn man so reist. Und in der Tat macht es rein sachlich betrachtet keinen Unterschied, ob wir zwei Tage früher oder später ankommen, liegen die Daten noch dazu absolut im verkalkulierten Bereich. Und doch ist es ein enormer Unterschied. Egal, pflege ich zu sagen, ob eine Passage zwei Tage oder zwei Wochen dauert: Die letzten drei Tage sind immer die längsten.
610 Seemeilen errechnet die elektronische Seekarte mit unserm Umweg über den 39 Breitengrad hinaus, den wir wetterbedingt machen müssen. 1252 Seemeilen haben wir in den ersten acht Tagen zurückgelegt, das entspricht einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 6,5 Knoten. Wenn wir 6 Knoten halten könnten, kämen wir in 102 Stunden an = 4 Tage \+ 6 Stunden = Montag, 20. Juni, 2100 UTC = 21 Jahre und 11 Stunden nach der Geburt meiner Lieblingstochter!