Date: 17. Juni 2022 um 02:52:46 GMT
Location: 39.25°N, 36.28°W
Mit sieben Knoten nach Nordost
0300
Ich habe mit nur einer Unterbrechung um 0100 zum Kurs und Segel adjustieren sehr gut geschlafen. Die Wellen sind niedrig und die Europa fliegt in 3-4 Bft. Ich habe vergessen, wann wir zuletzt ein anderes Schiff gesehen haben. Trotzdem vergehen die Tage wie im Flug.
Ein wenig Sorgen bereitet mir der Solarregler, der einen ganzen Ladezyklus, sprich einen Tag, ausgesetzt hat. Laut Betriebsanleitung kann das passieren, wenn die Batterien zu tief entladen wurden. Rein theoretisch sollte er nach Sonnenaufgang wieder anspringen. Hoffen wir.
0700
Unser Flug durch die Nacht wird von einer verwaschenen Dämmerung begrüßt. Das Reff war nicht verkehrt, die Wellen blieben aber sanft. Vielleicht ist es auch nur eine Frage der Relationen? Vielleicht sind wir schon daran gewöhnt, uns in der Schräglage durch die Kabine oder über Deck zu hanteln? Unfassbar welche Freude dieses Schiff vermittelt, die Wellen an Lee in einem weißen Rausch aus Gischt stoben zu lassen!
Zur Zeit sieht es so aus, als ob wir den nördlichsten Punkt morgen Mittag erreichen werden. Dort erwartet uns eine kleine Leichtwindzone mit Winden, die nach Nordost drehen. Das Um und Auf wird sein, den richtigen Zeitpunkt für die Wende zu erwischen, um dann – hart am Wind – die letzten 300 Meilen bis Horta segeln zu können. Auch für den letzten Abschnitt erwarten wir Winde 4 bis 5 Bft. Wenn wir die Wende zu früh machen, verfehlen wir die Insel Fajal im Süden und müssen dann gegen den Wind aufkreuzen. Wenn wir zulange zuwarten, schließt sich das Windfenster wieder, weil der Wind dann gegen uns dreht. Zwei Stunden zu früh oder zu spät können sich in mehr als einem Tag Verzögerung bei der Ankunft auswirken.
Am meisten macht uns zur Zeit die Luftfeuchtigkeit in der Nacht zu schaffen. Deck und Cockpit sind klitschnass, an den Scheiben rinnt Wasser ab. Auch im Inneren gibt es Stellen, an denen sich Kondenswasser in kleinen Bächen bildet. Bleibt zu hoffen, dass die Sonne heute untertags stark genug wird, um die Nässe zu trocknen.
1630
Es wird ein klarer Tag mit kräftiger Sonne, immer wieder wolkenlos und warm. Die Prognosen haben sich nur unwesentlich geändert, allerdings nicht zu unserem Vorteil. Wir müssen die nächsten 24 Stunden gnadenlos Höhe machen, also so dicht wie nur irgend möglich an den Wind ran. Das bedeutet starke Schräglage. Aber gut gerefft nehmen wir das zur Kenntnis und das Leben an Bord nimmt seinen gewohnten Gang. Ich konnte das Problem mit dem Solarregler finden und zumindest provisorisch beheben. Aber selbst wenn es nicht bis Horta hält ist das nun kein Grund zur Besorgnis mehr.
Kurze Zeit war ein riesiges Containerschiff winzig klein am Horizont zu sehen, aber nur, wenn wir ganz oben waren, am Kamm einer Welle. Und dann zog ein einsames Flugzeug einen Kondensstreifen in den makellosen Himmel. Soviel Menschen, so nahe, an diesem Freitag Nachmittag im Nordatlantik.
Die letzten Tage werden eine Herausforderung an die Selbstdisziplin. Es gilt, Unachtsamkeiten zu vermeiden, die Komplikationen verursachen können. So gut wir uns heute fühlen, an diesem späten Nachmittag gewärmt von einer tiefen Sonne, so sehr muss uns bewusst sein, dass wir noch lange nicht angekommen sind. Viele böse Unfälle passieren am Ende solcher Passagen, wenn die Konzentration der Euphorie zu früh weicht. Darauf zu achten ohne die Stimmung zu ruinieren, ist eine in meinen Augen eine der wesentlichen Aufgaben eines Skippers.