Date: 18. Juni 2022 um 03:02:24 GMT
Location: 39.25°N, 36.28°W
Schleichfahrt
0300
Unbeirrt und in gleichmässigen Bewegungen zieht die Europa ihre Bahn zwischen die Horizonte, ein halber Mond am Himmel voller Sterne. Fünf Stunden tief durchgeschlafen, dass das möglich ist!
0630
Eine wolkenlose Morgenröte fängt sich in den Segeln. Kalt und nass kündigt sich ein strahlender Tag an. Delphine springen neben der Bordwand. Guten Morgen.
0830
In unserem Heck taucht ein riesiger Frachter auf. Der zweite innerhalb von 24 Stunden. Rush hour? Das Schiff hat einen dunkelblauen Rumpf mit der Aufschrift „CGA CMA“, ist mehrere hundert Fuß lang und über der Bordwand zähle ich fünf bis sechs Lagen an Containern, noch einmal soviel dürften sich im Rumpf verbergen.
1430
Wir haben die Leichtwindzone erreicht. Das Meer liegt ruhig, endlos lange Wogen bewegen sich in Zeitlupe unter der gekräuselten Oberfläche. Fast ungewohnt, wie gerade das Schiff liegt und wie ruhig wir durch diese friedliche Umgebung gleiten dürfen. Als die Sonne herausgekommen war, haben wir alles zum Trocknen aufgelegt. Selbst das Sprayhood haben wir weggeklappt und sind die Europa einige Stunden ganz offen gesegelt. Das lassen die Bedingungen nur höchst selten zu.
Die Wassertemperatur erreicht nurmehr zwischen 19 und 21 Grad und bestimmt so auch die kühlste Lufttemperatur. Die Sonne ist warm, aber sie brennt nicht. Die Luft ist leichter, ein wenig rauher oft, klarer. Wir sind woanders angekommen, ganz woanders – ein anderes Klima, ein anderer Kontinent, eine andere, die alte Welt. Wer kann schon sagen, wo wir wirklich sind?
Leise streift das Wasser den Rumpf entlang.
Was nicht geträumt wird, kann nicht werden. Was nicht wahrgenommen wird, kann nie geschehen sein. Was nicht erzählt wird, ist nicht Teil von uns. Ob jemand aus dem Fenster des Flugzeugs geblickt hat, das gestern in zehntausend Metern Höhe über uns hinweg geflogen ist? Ob jemand unsere kleinen weißen Segel erblickt hat auf dem riesigen Ozean, zwischen den schäumenden weißen Wellenkämmen? Ob es eine Frau war oder ein Mann? Ein Kind, verloren in einem Traum? Wenn uns jemand gesehen hätte, dann wären wir auch tatsächlich da gewesen. Aber so?
Jetzt sind Wolken aufgezogen und bedecken den Himmel zur Gänze, die Farben verwandelt in Pastelltöne aus Blau und Grau, nicht weniger endlos deswegen die Weite. Und alles wirkt so vertraut. Moment der Mitte.
Die Berechnungen sagen, dass wir Dienstag Nachmittag oder Abend ankommen würden. Berechenbar – läuft es darauf hinaus? Unsere Vorräte gehen langsam zur Neige – kein Grund zur Sorge.
Wimpernschläge eines Tagtraums später sind die tiefen Wolken wieder verflogen, strahlend feste Farben, die warme Sonne auf der Haut. Hier sind wir, jetzt und nie zu einer anderen Zeit. Welch eigentümliche Stunde.
1900
Außerstande diese Stunden in Worten zu begreifen, staune ich in den langsamen Abend. Dabei ist es nicht der Moment, der so unbegreiflich, so unwirklich wirkt. Das Gegenteil ist so unvorstellbar. Vielleicht ist es hier so schön, weil hier keine Nation ist, frage ich mich und blicke auf die Fahne im Heck.
La bandera. „Was ist Deine Heimat? Eine Nation? Die Fahne? Die Grenze? Der Strich auf der Landkarte?“, sagte Giovanni Russo in einem Interview, das ich mit ihm 2014 in Sizilien geführt habe. „Stell Dir vor, es gebe keine Nation und keine Religion, es gebe nichts wofür Du sterben müsstest.“, der vielleicht zentrale Satz, von dem unsere Generation geprägt wurde – oder sagen wir: geprägt hätte werden sollen. Dass sein Urheber Opfer einer Schußwaffe wurde, die von einem Geistesgestörten am helllichten Tag auf offener Straße abgefeuert wurde, ohne dass es jemand hätte verhindern können – vielleicht auch verhindern wollen? – birgt einen Zynismus des Schicksals in sich, dem ich den belanglosen Zufall nicht zugestehe.
Wir kennen den Ursprung der Gewalt. Wir wissen um die Wurzeln des Hasses. Wir kennen jeden einzelnen roten Knopf der zahllosen roten Knöpfe, die unkontrolliert dem Wahnsinn ausgeliefert sind, von dem wir wissen, dass er jedem – ausnahmslos jedem – Machthaber innewohnt. Es ist nicht die Nation oder die Flagge, es ist nicht die Religion – es sind die roten Knöpfe, mit denen wir unsere Welt berechenbar machen wollen. Und die Wahnsinnigen, die wir mit dieser Macht ausstatten. Was für eine Idiotie.
Wenn Du neben mir sitzen würdest und sehen könntest, was ich sehe, würden auch Dir die Tränen kommen, weil Du nicht umhin könntest zuzugeben, dass es keinen Grund für all das Elend gibt, das wir uns selbst antun.
Zumindest diese Nacht wird friedlich. Grund genug für eine neue Hoffnung.
Fasziniert, berührt, nachdenklich und dankbar nehm ich wahr, was durch die Farben deiner Worte wird und segle mit auf hohen Wellen der Gedanken …es ist.
Danke für deine wundervollen Worte und die damit verbundene Erinnerung an unser spannendes Gespräch in Graz. Bussis