Date: 19. Juni 2022 um 03:19:40 GMT
Location: 40.34°N, 33.88°W
Andi Warhol und die Sache mit dem Streckbug
0300
Wir haben den Motor an. In einer knappen Stunde erreichen wir den nördlichsten Punkt bei ca. 40•24‘N 33•48‘W, wo wir dann auf einen Südostkurs direkt nach Fajal drehen. Der Wind sollte in den kommenden Stunden zurückkehren und dann bis Horta langsam, aber stetig auf 20 Knoten zulegen. Wieder wird es darum gehen, so hoch wie möglich am Wind zu bleiben, um weiteres Kreuzen zu vermeiden. Die verbleibenden 270 Meilen sollten so in rund 48 Stunden machbar sein.
0700
Wir haben vor knapp 3 Stunden den Kurs geändert. Die leichten östlichen Winde treffen auf Schwell aus Südwest und leichte, aber drehende Strömungen. Höhe laufen geht ohne Motor noch nicht. Es ist wieder mal – sehr bewegt!
1230
Es hat lange gedauert, bis ich in den Kreuzseen den richtigen Trim gefunden habe. Jetzt machen wir Tempo, bald ist das nächste Reff angesagt. Immer wieder krachen wir mit vollem Tempo in eine „falsche“ Welle. Das Schiff bebt. Unnachgiebig verlangt uns der Tag alles ab. Es ist bedeckt, hin und wieder regnet es. Unser Tempo ist wieder extrem hoch. Das gestrige Etmal waren nur 90 Meilen – aber: das ist die direkte Entfernung zwischen zwei Punkten in 24 Stunden! Tatsächlich haben wir über Grund 45 – 50 Meilen mehr zurückgelegt, da wir uns am sogenannten „Holebug“ befanden, also jener Strecke beim Gegen-den-Wind-Kreuzen, mit der man das Schiff in den richtigen Winkel zum Zielpunkt bringt. Ob wir weit genug ausgeholt haben, damit wir keine weiteren Wenden machen müssen, wird sich erst zeigen. Im Moment liegen wir gut, wenn denn der Wind so dreht, wie vorhergesagt. Aber es ist ein Ringen um jeden Meter. Aus diesem Grund verbringe ich meine Schlafphasen im Cockpit. Bisweilen bringt eine Kursänderung am Autopilot nämlich gar nichts, im schlimmsten Fall sogar das Gegenteil des gewünschten Effekts und man muß den Trim des Boots verändern, um den gewünschten Kurs – so hart wie möglich am Wind – halten zu können.
1700
Wir schaffen es nicht. Trotz größter Anstrengungen können wir die Höhe, die wir bräuchten, nicht erreichen. Die Gemengelage aus Wind, Wellen und Strömungen macht das einfach unmöglich. Ich war jetzt einige Male am Mast, Großsegel rein, dann wieder raus, flacher, bauchiger, Achterliek offener, dann geschlossner. Schlußendlich bekommen wir wenigstens eine halbwegs passable Lage und Geschwindigkeit hin. Aber es fehlen ein bis eineinhalb Grad. Lächerlich auf kurzen Schlägen, aber verheerend auf einem Streckbug von über 200 Seemeilen.
Die Kreuzseen werden weniger, die Wellen haben sich weitgehend auf eine Richtung geeinigt. Lediglich die immer wieder gegen sie stehende Strömung verursacht in Abständen Unebenheiten.
Die Arbeit am Mast ist in diesen Bedingungen extrem anstrengend. Push-Button Boote, wie man sie heute baut, Boote, die per Knopfdruck über hydraulische oder elektrische Systeme gesteuert werden können, ohne dass die Crew sich aus dem Cockpit bewegen muss, sind was für alte Leute, beschließe ich und schiebe den Gedanken beiseite. Neunundfünfzig ist das neue Sechsundreißig, basta.
Kaum verschnaufe ich bei einem Powernap, stelle ich fest, dass das Schiff nun zumindest phasenweise gute Höhe läuft. Schaffen wir es doch? Um 1830 oder 1900 werde ich unsere Position evaluieren. Wenn wir eine Wende machen müssen, dann sollten wir es heute Abend machen. Je länger wir zuwarten, desto länger wird die Strecke am Holebug, desto schlechter der Winkel zum Wind, und desto stärker wird der Wind, gegen den wir an müssen. Leichte Entscheidung, werden manche denken, macht doch! Aber ganz so einfach ist das leider nicht. Der Holebug müsste zumindest 30 Meilen lang sein, das sind vier, fünf oder sechs Stunden in die falsche Richtung! Wenn wir auch ohne dem zurück auf oder über unsere Kurslinie kämen – das wäre der Jackpot. Wir werden sehen. Was sonst kann man auch machen?
Eine Möwe tanzt um die Europa. Knapp über der Wasseroberfläche zieht sie kreisförmige Bahnen ohne einen Flügelschlag, beschleunigt, bremst ab, zischt einmal gegen und dann wieder mit dem Wind hin und her, im Tiefflug durch die Wellentäler, den Kopf nach vorne gestreckt. Ohne Mühe. Ohne Kraft. Wer kann, der kann. Die Europa hat sich nun ebenfalls jenseits des Kämpfens um jeden Preis auf dem schnellsten, besten und mühelosesten Kurs eingependelt. Zwingen kann man kein Glück und — wozu sollte man auch?
Die Arbeit am Kartentisch hat auch etwas Akrobatisches an sich. Der langen Rechnungen kurzer Sinn – wir werden in einer Stunde eine Wende machen und dann drei Stunden auf den Holebug gehen. Nach Sonnenuntergang, aber noch vor Dunkelheit sind wir wieder auf Kurs Fajal. Das sollte uns die notwenige Höhe verschaffen, die wir nach den Erkenntnissen dieses Tages benötigen, um Horta zu erreichen.
2215
Wir haben den Holebug absolviert und gut Höhe geholt. Jetzt sind wir wieder auf Kurs Horta. Alle Rechenvarianten sagen, dass wir es nun auf diesem Bug schaffen sollen. In 2 Stunden gibts neue Daten, aber da die Prognosen seit einigen Tagen mehr oder minder unverändert sind, können wir diesbezüglich hoffnungsfroh sein. Zwischen 30 und 36 Stunden werden wir für die verbleibenden 199 Seemeilen noch benötigen. Unser Kurs wird uns ca 20 Meilen südwestlich an der Insel Flores vorbeiführen. Das wäre eigentlich der logische Hafen zum Einklarieren, aber er ist das ganze Jahr über wegen Bauarbeiten gesperrt.
Fast zwei Stunden spielen wir uns, bis das Boot wieder richtig getrimmt ist. Das Windinstrument ist endgültig ganz ausgefallen. Mit der Taschenlampe den Stander im Masttop anleuchten und nach Gehör fahren. Man lernt nie aus!
Das Ölzeug habe ich den ganzen Tag über nicht ausgezogen. Bereits vor einigen Stunden habe ich einen Pullover und nach Sonnenuntergang meine Wollhaube geholt. Wir essen Hühnersuppe aus der „Campel“ Dose in der kürzesten Nacht des Jahres – irgendwo im Nordatlantik – Andi Warhol läßt grüßen.
0000
Alles Gute zum Geburtstag, liebste Anna!