Date: 20. Juni 2022 um 04:09:11 GMT
Location: 38.64°N, 29.17°W
Das Zauberschiff
0400
Es ist kalt, die Finger sind so klamm, dass ich kaum schreiben kann. Der Holebug gestern Abend hat sich ausgezahkt. Wir laufen komfortabel Höhe und sind wieder 7 Knoten schnell. Wir haben noch 160 Meilen, die wir wohl in 24 Stunden schaffen und in den frühen Morgenstunden ankommen werden.
Unsere Bordzeit UTC ist hier Ortszeit. Tatsächlich liegen die Azoren knappe 30 Grad westlicher als Greenwich, was einer Zeitverschiebung von minus 2 Stunden bedeuten würde. Ich nehme an, dass man sich aus Gründen der Einheitlichkeit ähnlich wie Spanien dazu entschieden hat, dieselbe Zeit wie Lissabon beizubehalten.
Merke: 15 Längengradminuten entsprechen einer Zeitverschiebung von 1 Stunde!
0500
Auf Bermuda habe ich mir zwar eine ebensolche Short mit Bügelfalte gekauft, aber der Großteil meiner kurzen Hosen ist auf dieser Reise schlichtweg zerfallen. Da ich auch an den Sommer auf den Azoren glaube, hoffe ich, mir in Horta noch ein paar kurze Hosen kaufen zu können, freilich hoffe ich nicht auf Bermuda, sondern in dem Fall auf Azoren Shorts.
Meine Ölzeugjacke löst sich auf, die ist jetzt auch fertig. Das 20 Jahre alte Fernglas tuts auch nur mehr eher schlecht als recht.Die leichten Wassereinbrüche unter dem Laufdeck auf der Steuerseite sind der schlechten Verschraubung der Traveller Schiene geschuldet, bei der Marco in Messolonghi geschlampt hat, als er – vor mittlerweile 10 Jahren! – das Teakdeck entfernt hat. Die Instrumente, die nun nach und nach ausfallen, müssen ersetzt werden. Die meisten habe ich im Internet gebraucht gefunden. Das wird eine Weile taugen. Ansonsten sind einige kleine Wartungsarbeiten zu machen, wie immer.
1300
Unser Etmal betrug 120 Meilen. Das ist, inklusive Aufkreuzen, sehr zufriedenstellend. Seit den Morgenstunden steuere ich mit wenigen Unterbrechungen von Hand. So gewinnen wir besser an Höhe. Wie es im Moment aussieht, kommen wir morgen früh an. Vor uns liegt also eine weitere nasse, kalte Nacht.
1530
Wir haben uns hart Höhe erkämpft, die uns in einen besseren Winkel für die kommende Nacht bringt. Viele Stunden sind wir gegen 3 Meter hohe Welle angekreuzt, das meiste von Hand gefahren. Die Europa ist jetzt so perfekt getrimmt, dass am Ruder kaum Druck zu spüren ist. Immer wieder nehme ich die Hände vom Steuer und sie fährt ohne Autopilot minutenlang den richtigen Kurs. Und das bei diesen Bedingungen! Zauberschiff.
1900 Seemeilen Wasser, Wind und Weite. Wie gut das dem Gemüt tut, wie gut dem Körper – trotz aller Strapazen und Herausforderungen. Knappe zwei Wochen kein „Infotainment“, das unsere Welt in eine tragisch schaurige TV Show verwandelt, keine Asozialen Medien (sozial sind sie jedenfalls nicht), keine biedermeierliche Moralvorstellungen, die nicht dem Humanismus, sondern nur der Beherrschung dienen. Keine Schlagzeile haben wir versäumt, keine hybride Hysterie, keine Bilder kopfstehender Katzen. Obwohl ich Katzenbilder mag. Sie fehlen mir bloß nicht. Wir haben sie nicht gesehen, wir selbst waren unsichtbar, und dennoch sind wir da. Mein Blick sucht den wolkenlosen Himmel erfolglos nach einem Kondensstreifen ab – kein Flugzeugfenster weit und breit, hinter dem sich ein Kind in einem Tagtraum verlieren und unsere weißen Segel als Punkte zwischen den Wellenkämmen entdecken könnte.