Der Mann im Blauen Lada
Nachdem unser Versuch, die Gasflaschen befüllen zu lassen, gescheitert war, sagte jemand: »Fragt den Mann im blauen Lada. Wenn Euch der nicht helfen kann, dann keiner.«
Unser Tagesablauf bekommt erste Rituale. Nachdem ersten Kaffee gehe ich nach vorne in den Empfangsbereich des WLAN, um Mails zu erledigen und daheim anzurufen. Zu dieser Zeit ist es noch dunkel, und so habe ich gestern bei einem unachtsamen Tritt meinen linken Fuss verknöchelt. Einige der ohnehin bei mir schon oft überdehnten Bänder habe ich sogar reißen hören. Schmerzen habe ich allerdings nur, wenn der Fuß längere Zeit ruhig war, ich kann also auftreten und gehe auch ganz vernünftig, selbst der Ausflug in die Altstadt von Havanna war kein Problem. Erst heute ist das Gelenk etwas angeschwollen, aber nicht verfärbt.
Walter
Unterdessen haben wir Walter kennengelernt, der die Tauchbasis betreibt, und zu jenen gehört, die hier auf die Schiffe aufpassen dürfen, während die Besitzer weg sind. Es ist nämlich keineswegs so, dass die Marina mit der Liegegebühr gewährleistet, dass auf das Schiff geachtet wird. Dafür, wie für jede andere Arbeit, muss man Leute von außerhalb engagieren. Damit die aber für einen arbeiten dürfen, muss man als Eigner einen Vertrag mit der Marina und dem Dienstleister machen. Man bezahlt dann nicht nur den Dienstleister, sondern auch die Marina, dass sie das sozusagen gestattet. Verrückt.
Walter wird also auf unser Schiff aufpassen, wenn wir weg sind. Als Taucher kann er auch die Opferanode an der Schraube montieren und das Unterwasserschiff reinigen, bevor wir fahren – und er kümmert sich um unseren Aussenborder, der Mucken macht.
Überall sind Schweizer oder: Mehr als zwei sind eine Gruppe
Wir haben zwei Schweizer kennengelernt, die auf einer 54er Hanse festsaßen. Sie kamen vergangen Sonntag aus der Schweiz und mussten bis Donnerstag Abend auf das Ergebnis ihres PCR Tests warten. Sie waren nahe am Lagerkoller und ich habe Wirtschaftshilfe geleistet, indem ich Ihnen ein paar Zugangskarten fürs Internet geschenkt habe.
Der Eigner hat das Schiff nun vier Jahre hier gehabt, erzählt mir sein Freund, der derjenige von den Beiden ist, der segeln kann. Das Schiff sei in einem schlechten Zustand, weil eben hier schon seit Jahren keine Ersatzteile zu bekommen sind. Notdürftig hätten sie alles soweit fit gemacht, dass sie morgen auslaufen können. Ihr Ziel ist St. Petersburg in der Tampa Bay an der Westküste Floridas. Die Hanse hat 2,60 Meter Tiefgang, erfahre ich, was für viele Häfen und Marinas in Florida zu viel ist. Die Liegegebühren in Florida sind verrückt teuer, die Ostküste ist teuerer als die Westküste.
Einen oder zwei Tage, bevor wir ankamen, war bereits ein altes Stahlschiff aus Mexico angekommen, das unter niederländischer Flagge läuft. Endlich freigetestet lernen wir die Crew kennen. Die Skipperin ist eine junge Segellehrerin aus der Schweiz, die mit ihrem Freund, zwei Segelschülern, einem Hund und einer Katze von der Isla Muerte herüber gesegelt war. Zwei oder drei Tage bleiben sie, dann geht es wieder zurück.
Mehr als zwei sind eine Gruppe, sagt man – und wir sind drei Segler. Zählen wir meinen Freund Tim noch dazu, sind wir sogar vier! Wenn allerdings die Schweizer mit ihrer Hanse morgen und die Segellehrerin übermorgen die Marina verlassen, bleiben in der Tat nur Tim und wir übrig. Sonst ist niemand hier – obwohl die vollständige Belegschaft der Marina, der Hotels und Restaurants jeden Tag hier anrückt. Zum Glück, muss ich sagen, denn die beiden Restaurants sind für uns lebenswichtig, auch wenn sie nur Take-Away anbieten.
La Habana: Die sterbende Schönheit
Am Donnerstag beschließen wir, uns das Zentrum von Havanna anzusehen. Die Sekretärin im Büro des Dockmasters ruft uns ein Taxi. Zwanzig Minuten später kommt der Mann im Blauen Lada. Er ist der Erste, der wirklich gut Englisch spricht. Die Marina befindet sich ja im Westen der Stadt und der Stadtteil Santa Fe markiert auch das Ende der Metropole. Ungefähr eine Halbe Stunden fahren wir über vierspurige Calles und Avenidas ins historische Zentrum – zuerst durchs Botschaftsviertel, in dem so unglaublich schöne Villen stehen, die dem Verfall preisgegeben sind. Nur die Häuser, die Botschaften beherbergen, sind restauriert und geben eine Ahnung von dem Reichtum an Schönheit, den diese Stadt zu bieten hätte. Selbst der dem Exkalibur Schwert nachempfundene Stahlbetonbau der russischen Botschaft wirkt wie ein architektonisches Zeitdokument, das zwar finster und bedrohlich wirkt, aber wenigsten in Schuss ist.
Wir fragen, ob wir hier irgendwo etwas einkaufen könnten, doch unser Fahrer zeigt uns die bei jedem Supermarkt endlos lange Schlangen, am größten Supermarkt reicht sie sogar über mehrere Straßen. Unser Fahrer bestätigt die Auskunft, die wir in Varadero erhalten hatten, dass das Virus zu Weihnachten mit den Exilkubanern zurückgekehrt war. Havanna befindet sich nun im Lockdown, es ist nicht möglich, die Stadt auf dem Landweg zu betreten oder zu verlassen, Lebensmittel sind rationiert. Siebenhundert Neuinfektionen wären es gestern allein in Havanna gewesen.
Am Malecon entdecken wir so gut wie gar keine alten Häuser mehr. Einzig das Hotel Nacional versprüht einen gewissen Charme, während sich die restlichen Bauwerke in zweckorientiertem und charmefreiem Stahlbeton üben. Am Ende macht die vierspurige Promende eine Rechtskurve und führt entlang der Einfahrt zum Haupthafen Richtung historischem Zentrum, wo uns der Mann im Blauen Lada rauslässt.
Hafenseitig befinden sich die Festungsanlagen und die Kathedrale der Spanier, wo die meisten Häuser gut erhalten sind. Je weiter wir aber in die Gassen der Altstadt vordringen, umso erdrückender wird Ruin. Wir kaufen uns Take Away Pizzas, auch hier hat nichts offen. Ein paar Märkte in Hinterhöfen, manche haben ein vergleichsweise reichhaltiges Angebot – es gibt neben Tomaten vielleicht auch noch Papayas oder mit viel Glück sogar ein paar Bananen. Viele Menschen sind auf den Straßen, die gesamte Altstadt ist Fußgängerzone, deren Zufahrten mit in den Boden gerammten spanischen Kanonen blockiert sind, die so als Boller fungieren.
Alle trage Masken, die Strafen sind drakonisch. Dennoch beeindruckt die Vielfalt an Hauttönen, von teilweise weißhäutigen Kaukasiern bis tiefschwarzen Afroamerikanern – viele davon von einer nahezu unglaublichen Schönheit.
Neben diesen Schönheiten verfallen die Häuser und es gibt nichts, was den Verfall verhindern möchte. Die Reste eines teilweise eingestürzten Hauses dienen den Bewohner des Nachbargebäudes als Balkon. Immer wieder blicke ich in die oberen Stockwerke, sehe desolate Fensterläden, die nutzlos an Fenstern ohne Glas hängen. Überall da wohnen Menschen. Manche haben Tücher aufgespannt, um sich notdürftig vor dem Wind zu schützen, der heute besonders stark und kalt ist – »Der Florida Norther«, oder kurz »El Norte«, wie er hier heißt, geradezu symbolhaft, dass auch der Würgegriff der Kälte vom übermächtigen Nachbarn im Norden herüber weht.
Patria o Muerte
Und so ist auch das Capitol zu einem Symbol geworden, jenem in Washington nachgebaut, ist die goldene Kuppel auch vom Meer her über viele Meilen zu erkennen. Dieses Capitol wurde nicht gestürmt, denke ich, wobei die Leute, die auf der anderen Seite der Avenida in Verfall und Armut leben, einen wirklichen Grund dazu hätten.
Andererseits fällt zumindest mir im Moment kein Fall ein, in dem ein Embargo jemals einen Regimewechsel befördert hätte, eher im Gegenteil. Und auch wenn der Tod von Fidel Castro vor einigen Jahren noch eine große Staatstrauer nach sich gezogen hatte, so weiß doch jeder, dass die alten amerikanischen Autos, die als Taxis herumfahren, längst genauso zur touristischen Folklore geworden sind wie das Konterfei von Che Guevara samt Hasta Siempre. Der Kommunismus ist auch hier seit langem tot, wer etwas haben will, braucht Dollar. Die Preise sind am oberen Ende des »westlichen« Niveaus angesiedelt, Kuba ist teuer. Der Schwarzmarkt macht es noch teurer, und während die Löhne sinnlos niedrig sind und in wertlosen Pesos ausbezahlen werden, etabliert sich eine Schattenwirtschaft, die sich auf die wenigen Touristen konzentriert. Und auch wenn die Kubaner das alles mit viel Charme und gutem »Schmäh« machen, empfinde selbst ich die ständige Schnorrerei als aufdringlich. Trotzdem erinnert die Gravur auf jeder wertlosen Peso – Münze an die Revoluçion: »Patria o Muerte«. Die Revolution hatte einzig und allein den Sinn, dieser multiethnischen Bevölkerung, Nachfahren von Sklaven, Flüchtlingen und spanischen Eroberern eine gemeinsame Identität zu geben. Rassismus, wie wir ihn kennen, finden wir hier nicht.Irritierend ambivalent.
An zwei, drei internationalen Hotels kommen wir noch vorbei, Burgen auf scheinbar extraterritorialen Gebiet, die nichts mit den Menschen und dem Leben hier zu tun haben. Doch auch sie sind geschlossen. Auf einer kleinen Plaza machen wir Rast an einem Betontisch, auf dessen Oberfläche ein Schachbrett eingelassen ist. Eine Frau bietet uns ein Stück Käse unter der Hand an, ein junger Mann schnorrt Feuer. War ich bei meinem Aufenthalt vor zwanzig Jahren von der Lebensfreude und der Vitalität begeistert, mit der die Menschen ihre schwierige Lage meisterten, spüre ich heute davon nichts.
Nach vier Stunden holt uns der Mann im Blauen Lada wieder ab. Die Altstadt, sagt er, sei schlicht und ergreifend aufgegeben worden, während wir durch einen angrenzenden Bezirk fahren, der vergleichsweise intakt wirkt und von einer Mittelschicht in Ein- und Zweifamilienhäusern bewohnt wird. »Wir konnten schon während des Trump – Embargo kaum atmen«, fährt er fort, »dann kam Covid dazu. Noch so ein Jahr überlebt Kuba nicht. Aber wir müssen weitermachen, was bleibt uns über? Aber wenn das so weitergeht, werden wir draufgehen.«