Tortugas Bank
Vor zwei Tagen war Vollmond, aber der Mond, der vor kurzem aufgegangen ist, ist noch immer rund und hell und groß – und scheint direkt ins Cockpit. Selbst an kurze Schlafeinheiten ist nun nicht zu denken. In drei Stunden erreiche ich die Tortugas Bank.
0600 UTC | Tortugas Bank
Die Untiefen sind umschifft. Zum ersten Mal seit verdammt vielen Seemeilen steuere ich wieder einen Kurs, der gen Osten führt, wenn auch nur mit 1-2 Grad. Der Wind hat etwas nachgelassen, das Reff ist wieder Raus. Auch die Strömung ist nicht mehr so stark, 6,5 Knoten sind aber noch immer dir , die die Europa über Grund läuft. Noch ein, zwei Zwanzigminuten-Nickerchen, dann mach ich mir eine Suppe. Das Deck ist pitschnass.
Kurz vor Sonnenaufgang zieht eine tiefe Regenwolke durch, die mich nur am Rande erwischt. Durch das kurze Reffen eröffnet sich die Möglichkeit, neu zu trimmen. Ich laufe deutlich höher, das Wasser ist seichter, die Welle kürzer. Gegen Abend, sagen die Prognosen, soll der Wind abflauen. Wenn weiter alles klappt, sollte ich die Einfahrt zur Tampa Bay spätestens morgen bei Sonnenaufgang erreichen. Von dort sind es dann aber immer noch 20 Meilen unter Motor durch eng betonnte Fahrwasserrinnen. Gestern am späten Nachmittag war es heiß, fast ein schwül, in den frühen Morgenstunden kühlte es merklich ab. Die Atmosphäre ist mild und wirkt ausgeglichen, obwohl unweit von hier über dem Festland gerade noch der Winter ausklingt.
Untiefen
Ich beschäftige mich mit der Arbeit von Peter Heinl und Ruth Kaufmann. Kaufmann hat ein Erinnerungsprojekt in Graz durchgeführt, dessen Herzstück Bertls und Adeles Tagebücher sind. Heinl hat mich mit ihr zusammengebracht. Die Arbeit von Heinl, Psychiater und Psychologe, ist faszinierend, weil es ihm als gelingt, vollkommen neue Sichtweisen auf die Entdeckung von (Kriegs-)Traumen zu entwickeln. Kaufmann hat einerseits die Tagebücher ihres Vaters, Überlebender, und jene von Adele Kurzweil bearbeitet, wobei sie sich die Freiheit genommen, als Autorin Adeles Gefühle wiederzugeben; sie hat die wissenschaftliche Dokumentation verlassen, und – zurecht wie ich meine – die wissenschaftlichen Fakten durch sich selbst gefiltert und ergänzt. Ich hoffe, ich drücke das nicht zu unklar aus. Diesen Vorgang, wie auch Heinls intuitive Diagnostik, maße ich mir nicht an, hier in kurzen Worten zu beschreiben.
Der Punkt, auf den ich hinaus will, ist, dass mir mit einem Schlag klar geworden ist, dass wir uns von der Erinnerungs- und Gedenkkultur hin zu einer Benennungskultur wandeln müssen. Unsere Generationen haben direkt mit dem Holocaust nichts zu tun. Dennoch sind Auswirkungen in unserer, wie in den kommenden Generationen manifest, wenn wir die Anzeichen der Traumata nicht zu erkennen und zu benennen beginnen.
Vor allem Juden haben unvergleichliches Leid erfahren. Ohne die Qualen und den industriellen Massenmord verharmlosen zu wollen, hat es – in ganz anderen Formen – auch unter den Tätern und Mitläufern massive Traumatisierungen gegeben. Wahrscheinlich ist es nicht falsch, wenn man sagt, dass alle Menschen in Europa durch den Wahn des Nationalsozialismus Traumen erfahren haben, Traumen, die über Generationen nachwirken und unser Leben heute noch beeinflussen. Solange es uns nicht gelingt, diese Schrecken zu entzaubern, dem Schmerz den Raum zu geben, um zu einem Ende zu finden, lebt das Tausendjährige Reich – in uns, mit uns und durch uns. Schrecklicher Gedanke, der nicht weit genug greift. Mir wird eine erschreckende Komplexität bewusst, die es verlangt, deutlich weiter auszuholen – und es hat auch mit dem zu tun, worüber ich auf unserer Passage von Brasilien nach St. Lucia geschrieben habe: Erzählung und Wirklichkeit.
Krieg ist, wie jede Form von Gewalt, grundsätzlich traumatisierend. Das ist das Design des Krieges. Traumatisieren, Schrecken einjagen, die über viele Generationen hinweg möglichst tief sitzen, möglichst lange nachwirken. Für den »Erfolg« eines Krieges ist das in den meisten Fällen viel entscheidender als Landgewinn oder Raub von Gütern. Die Traumatisierung ist dabei die perfideste Waffe, wirkt sie doch gleichermaßen beim Aggressor nach wie beim Opfer. So gesehen hat Hitler das Ziel des Tausendjährigen Reiches erreicht, solange die Traumen in uns und unseren Kindern weiterleben – sowohl täter- wie opferseitig. Jeder ist davon betroffen – das ist das Wesen eines Weltkrieges.
Tief sitzende und – ich nenne sie »ritualisierte« – Traumen werden aber Bestandteil der kulturellen Identität – von Völkern, Gesellschaften, aber natürlich auch einzelnen Menschen. Die Mobilisierung für die Massaker der Serben im Jugoslawienkrieg fußen in der Schlacht am Amselfeld, die im 13. Jh stattgefunden hat. Die erfolgreich abgewehrten Türkenbelagerungen sind Bestandteil der österreichischen Identität und werden von Wiener Kindern bis heute besungen. – Es sind die Lieder, die Songlines, die Heldenepen, die den Krieg in unseren Herzen halten. Der Islamische Staat mag vorderhand den bewaffneten Krieg »verloren« haben – die Traumen und ihre Schilderung leben weiter, und solange sie leben, ist der Krieg nicht vorbei.
Es ist das Leid, das wir anderen zugefügt haben, das uns stark macht. Wer singt noch die hohen Lieder österreichischer Hilfsbereitschaft während des Ungarnaufstands oder sowjetischen Einmarschen in der Tschechoslowakei? Nicht nur wird das nicht mehr thematisiert, Hilfsbereitschaft und Aufnahme von Kriegsflüchtlingen ist heute geradezu verpönt – was für eine unendliche Verrohung. Und dabei funktionieren die Versatzstücke der Erzählungen, die Mechanik der Entmenschlichung genauso wie im Holocaust. Damit möchte ich das unvergleichliche Leid, das den Juden im Holocaust angetan wurde, in keinster Weise relativieren oder vergleichen, sondern auf die idente Mechanik der Wirkungsweise, die ich beobachte, hinweisen.
Was ist der Erfolg, an dem sich Frieden misst? Welches Lied hat er, welches Narrativ? Konflikte sind der Stoff, aus dem jede Geschichte ist, jeder Film – letztlich jede dramatische Kunstform. Ohne Konflikt keine Geschichte. Und ohne Konflikt kein Krieg.
Das große beherrschende Thema des Mediums Films ist die Tötung von Menschen. Kriminal- und Kriegsfilme stellen den Großteil aller filmischen Werke – Gewalt, die Menschen anderen Menschen antun, in ihren abscheulichsten Formen, ergötzen uns. Von den Kriegsfilmen wiederum beschäftigen sich zahllose mit dem WWII, ich behaupte, es ist die überwiegende Mehrzahl.
Apocalypse Now
Die Beschäftigung mit mit den Arbeiten von Heinl, Bar-On oder Rosenthal haben mir die Geschichte der Popkultur, der Rockmusik und natürlich die Filmgeschichte komprimiert in einem neuen Licht gezeigt. Der Befreiungsschlag einer ganzen Generation aus dem Trauma des WWII beginnt mit nach dessen Ende. Rockopern wie »Tommy« oder »The Wall« tun das später sogar ganz explizit und in straken, expressiven und lauten Bildern. Und in diesem Zusammenhang begreife ich auch den Wandel der 68er-Generation, die nach diesem Befreiungsschlag natürlich in eine neue Biederkeit verfallen musste – denn das war ja, was sie vermisst hatten. Die brave, stinklangweilige Behütetheit, die »heile« Welt, die eine wirklich »heile« ist, und nicht wie die Welt ihrer Eltern, die versuchte, um jeden Preis heil zu sein – nachdem 60 Millionen Menschen umgebracht wurden – oder besser gesagt: noch viele Millionen mehr.
In meinen Augen sind WWI und WWII nicht zwei verschiedene Kriege, sondern bilden ein einziges, komplexes Ereignis in der Geschichte. Und heute neige ich bereits zu der Ansicht, dass man den Korea- und Vietnamkrieg ebenfalls als Teile dieser mehr als ein halbes Jahrhundert andauernden globalen Traumtisierung sehen muss – bedenken wir nur, dass allein im Koreakrieg in nur wenigen Wochen mehr Bomben fielen als im gesamten Zweiten Weltkrieg. Möglicherweise werden Historiker in angemessenem Abstand erst den Fall der Mauer 1989 als das Ende eines Konfliktes ansehen, der ein Dreiviertel schlußendlich Jahrhundert gedauert hat.
Schon der Titel »Apocalypse Now« beschreibt das Szenario, auch wenn sich die Handlung des Klassikers auf Vietnam bezieht. Der »Antikriegsfilm« – was immer das ist – dringt dabei durch die verwundene Flüße in die dunkelsten Gefilde der menschlichen Seele vor. Aufschrei einer Generation, Manifest.
Ich erinnere mich, viele Jahre nach dem Erscheinen des Films eine bereits restaurierte Fassung im Gartenbaukino gesehen zu haben. Bildgewaltiges Meisterwerk. Es war eine Nachmittagsvorstellung, eine Handvoll Besucher in dem Saal, der tausend Zuschauer fassen kann. Einige Reihen vor mir saß ein junger Mann mit einer überdimensionalen Popcorntüte. Bei jeder Explosion rief er laut und begeistert »Buuummm«. Damals begann ich an der abschreckenden Wirkung von Bildern zu zweifeln. Jahrzehnte später hat mich mit dem Bild des toten Aylan – um nur eines von vielen zu nennen – Gewissheit darüber erreicht, dass Bilder vieles können, eines aber nicht: Empathie wecken. Sie sind stumpfe Waffen geworden, entwertet durch eine achtlose Inflation, durch Beliebigkeit.
Das mag wohl auch der Grund sein, dass Steven Spielberg nach seinem Film »Schindlers Liste« zum dem Schluß kam, keinen Spielfilm, keine »inszenierte« Darstellung des Holocaust mehr machen zu wollen. So großartig der Film wurde, so sichtbar ist, wie auch Spielberg an dem zerschellt, der wie ein schwarzes Riff in unserer Geschichte, aber auch in unseren Leben steht, in jedem einzelnen Leben. Ich wollte nie eine filmische Arbeit zum Holocaust machen; ich wollte eigentlich gar keine Arbeit zum Thema Holocaust machen. Zahllose Werke darüber wurden publiziert, dokumentarisch, fiktional, in allen Formen. So viel wurde darüber erzählt und gleichzeitig wird nie alles gesagt sein. Der Holocaust ist Teil von uns; Teil der Täter, Teil der Opfer. Die Möglichkeit, dass so etwas wieder passiert, ist in meinem Augen viel größer, als die meisten glauben; wenn wir ehrlich sein wollen, müssen wir sogar sagen, sie ist gewiss. Aber es liegt nach wie vor in unseren Händen, den Lauf der Geschichte zu verändern – in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Narration hebt die Eindimensionalität der Zeit auf.
1600 UTC (1200 LCL)
Die günstigen Bedingungen haben mir ein Etmal von 160 sm (!) beschert. Krawuzi. Der Wind wird zwar nachlassen, aber noch mache ich mein Tempo. 106 Meilen sind es noch bis zur Einfahrt der Bucht – das bedeutet zwischen 16 und 20 Stunden.
Ich bin schon sehr auf die Einreiseprozedur gespannt. Keine Ahnung, was mich da erwartet. Die Werft liegt direkt im Hafenkomplex von St. Petersburg. In manchen Quellen war zu lesen, dass Küstenwache und Zoll an Bord kommen, in anderen, dass ich für die Formalitäten zum Flughafen muss. Wir werden sehen…
Die Joblist für die Werft ist schön langsam auch fertig – wenn alles glatt geht, kann ich Freitag schon wieder im Flieger nach Hause sitzen.