Date: 8. Dezember 2021 um 11:53:05 GMT-5 Weather: 21°C Mostly Clear Location: Cape Florida Channel, FL, Vereinigte Staaten
Der Golfstrom
Abschied aus der Strasse von Florida
1200 UTC
Es war eine absolut ruhige und windstille Nacht bei angenehmen Temperaturen und ich habe vorzüglich geschlafen. Der Luftdruck ist während der letzten Tage sehr langsam ein klein wenig gefallen, der Himmel wieder wolkenlos. Nachvollziehbar, dass mehrere Schiffe hier offenbar auch längere Zeit am Anker verbringen.
Das Wetterupdate hat die Pläne bestätigt. In zwei Stunden werde ich aufbrechen. Leichte Winde, viele Stunden unter Motor, aber vor allem keine Gewitter sollten mich erwarten. Ich hoffe, dass die Temperaturen noch eine Zeit lang angenehm bleiben – insgesamt sind ziehe ich immerhin rd. 600 Kilometer nordwärts. Um in den Genuss des Golfstroms zu kommen, werde ich mich allerdings in zunehmender Entfernung zur Küste bewegen und bald keinen Internetempfang mehr haben.
Die Frage nach der Balance zwischen der individuellen Selbstbestimmung und dem Platz des Individuums in einer größeren Gemeinschaft beschäftigt mich nach wie vor sehr. Hierarchien widerstreben mir genauso wie die Behauptung vermeintlich allgemeingültiger Wahrheiten. Dennoch ist gerade in dieser Pandemiezeit mit ihren abrupten Kurswechseln ein gemeinsamer Weg der einzig mögliche. Das Virus zeigt uns, dass wir ein Kollektiv zu sein haben, wenn wir individuell frei sein wollen. Trotzdem widerstrebt es mir, das Zwang ausgeübt wird, speziell in der Frage der Impfung. Die Radikalisierung und Polarisierung der Debatte läßt jene sich in den Schützengräben ihres Widerstands eingraben, die zu gewinnen wir versuchen. 13.000 hätten sich demnach bereits von der elektronischen Gesundheitsakte ELGA in der Hoffnung abgemeldet, dadurch dem elektronischen Impfpass zu entgehen. Das gelingt nicht, denn tatsächlich kann man in Österreich dem elektronischen Impfpass gar nicht entkommen. Es ist keine freie Entscheidung. Das macht mich nachdenklich.
In den USA wird gerade wieder das Recht auf Abtreibung heftig diskutiert. Viele Bundesstaaten lehnen das ab. Sie nehmen der Frau das Recht, über ihren Körper zu entscheiden. Egal unter welchen Umständen das Kind gezeugt wurde, es muss zu Welt gebracht werden. Diese Regeln entstammen einer Zeit, in der das oberste Ziel menschlicher Populationen das mit Wachstum verbundene Überleben war. Je mehr Kinder, desto mehr Arbeiter, desto mehr Soldaten.
Heute leben wir in einer Zeit der Überbevölkerung. Unser Ziel ist nach wie vor das Überleben. Doch heute ist dafür eine Regulierung der Geburten vielmehr notwendig, als das Gebären um jeden Preis. Das ist Nährboden für Nationalismen und Rassismus. Gerade in den weniger hoch entwickelten Ländern und dort, wo das Bildungsniveau niedrig ist und es keine Emanzipation gibt, sind die Geburtenraten hoch. Das belastet die Verteilung der Ressourcen#, die ohnehin mehr als ungerecht und hauptsächlich von uns reichen Industrienationen verbraucht werden. Denkt man all das weiter, zeichnet sich eine dystopisches Bild. Dieses zu verändern, ist unsere Aufgabe.
1500 UTC
Umrunde die letzte Fahrwassertonne am Cap Florida, die ich dabei fast ramme. Ich hatte mich mit meinem Handy beschäftigt…! Wie dumm.
Die Europa musste gegen die steigende Flut anfahren, ehe ich nun auf eine 45 Grad Kurs gedreht habe, der mich zu meinem ersten Wegpunkt bringt. Dieser sollte demnach bereits im Wirkunsgbereich des Golfstroms liegen. Es ist heiss und nahezu windstill. Zu einem Bollwerk reihen sich die Hochhäuser, die die Küste säumen, als gelte es, eine Sintflut abzuwehren.
1540 UTC
Bereits 7 Meilen vor dem ersten Wepunkt komme ich in den Wirkungsbereich des Golfstroms. Unglaublich: Die Geschwindigkeit legt um 2 Knoten zu und mein Kursversatz beträgt 13 Grad!
1745 UTC N 25•53.7 | W 079•55
Normalerweise verwende ich das Radar nur Nachts oder bei schlechter Sicht. Nun aber habe ich mich in das Innere der Kabine zurückgezogen, da die Sonne brütend heiß ist. Das Sonnenverdeck muss ersetzt werden, es hat brave 14 Saisonen gehalten. Ich könnte zwar das alte noch einmal öffnen, fürchte aber, dass es bereits bei leichtem Wind in die Brüche gehen würde. Also überwache vom Navigationsplatz aus das Radar und strecke alle Viertelstunden den Kopf hinaus, um nach dem Rechten zu sehen.
Ich habe die Drehzahl geringfügig erhöht, um unangenehme Bewegungen im Schiff ein wenig zu reduzieren. Diese treten meist auf, wenn die Geschwindigkeit im Verhältnis zu den Wellen nicht optimal ist. Errechnen kann mann diese meines Wissens nicht, zumindest nicht auf die Schnelle, ein kleiner Ruck am Gasgriff löst das Problem aber meistens. 5,5 Knoten durchs Wasser ergeben nun 8,5 Knoten über Grund, manchmal mehr.
In rund 60 Meilen steht die nächste Kursänderung an. Dann bin ich genau in der Mitte zwischen Florida und Grand Bahama Island, von jeder Landmasse 27 Meilen entfernt. Dort endet die „Straße von Florida“, die mich beinahe das ganze Jahr über beschäftigt hat, zumindest seit wir die „Windward Passage“ zwischen Dominikanischer Republik und Kuba Anfang des Jahres überquert hatten. Die ihr nun folgenden Seegebiete tragen klangvolle Namen wie „White Sand Ridge“ oder „The Oculina Bank“ und beschreiben zumeist die Rücken von signifikanten Erhebungen des nordatlantischen Meeresbodens.
Singende Gedanken
1840 UTC | N 26• | W 079•52
Immer wieder weise ich in meinen Aufzeichnungen darauf hin, dass ich eigentlich nicht weiss, was mich zu diesen Reisen treibt, überhaupt, wenn ich sie allein unternehme. Manchmal scheint es oberflächlich einer gewissen Pragmatik oder technischen Notwendigkeit geschuldet, aber ich gelange immer mehr zu der Überzeugung, dass es sich dabei um eine Folgeerscheinung eines inneren, mir unbewussten Antriebs ist. Vielleicht ist es dieselbe oder eine ihr verwandte Unruhe, die mich in Wien manchmal nachts aus dem Bett treibt?
Die gestrige Niederlage bei Durchsetzung unserer Interessen bei der Urheberrechtsnovelle ist so ein Fall, der mich, wie der Volksmund sagt, im Kreis gehen lässt. Gepaart mit den elektronischen Kommunikationskanälen, die ein vielfaches der Kraft des Golfstroms haben, entsteht eine unangenehme Spirale aus Gedanken, äusseren und inneren Dialogen. Die Logik, das gelernte kausale Denken hält das Steuer verkrampft fest, obwohl die Klippe zu sehen, zu hören und bald schon zu spüren ist. Es kann nicht sein, was nicht sein kann. Wenn der … , dann das…, warum nicht?, weil! Vielleicht ist die Zeit der Logik einfach vorüber.
Unser Weltbild ist zu komplex geworden, als dass wir es mit dem bisschen Gehirnkapazität, die zu nutzen wir im Stande sind, auch nur ansatzweise verstehen könnten. Wir können, das zeigen Medien und Politik, heute die Dinge nicht mehr für die Allgemeinheit vereinfachen, ohne wesentliche Teile auszulassen. Damit gerät nahezu jede selbst wissenschaftlich basierte Erklärung komplexer Zusammenhänge, die einerseits der Wahrheit entspricht, gleichzeitig zu einer Fehlinformation.
Als ich ein halbwüchsiger Teenager war, verbrachte ich die Samstag Nachmittage, so ich nicht im Internat war, in der kleinen Werkstatt im Wirtschaftsgebäude des Hauses meiner Eltern im Weinviertel, und assistierte meinem um vier Jahre älteren und schrecklich coolen Bruder beim Reparieren seines Mopeds. Ich reichte ihm die Werkzeuge und brachte bisweilen gute, manchmal blöde Ideen zur Lösung eines Problems ein und lernte. Drehst Du die Schraube nach rechts, ziehst Du sie fest. Da ist Benzin, ein Kolben, ein Funke. Wenn das alles da ist, hindert den Motor eigentlich nichts mehr daran, seiner Bestimmung zu folgen.
Das hat sich im Grunde nicht geändert, und doch ist nichts mehr so einfach. Wenn wir heute die Haube eines Fahrzeugs öffnen, staunen wir kurz und schliessen sie wieder. Längst haben Prozessoren viele Funktionen übernommen. Auch wenn man mit viel Interesse so weit vordringt, dass man vielleicht noch versteht, welcher Prozessor ungefähr für welche Aufgabe zuständig ist – so verstehen wir nicht mehr wie er diese erfüllt. Das Bild mit Nullen und Einsen können nur noch wenige verstehen. Und die verstehen dafür andere Dinge nicht!
Das Weltbild des Einzelnen, darauf läuft es wohl hinaus, ist von Wissen, Verstand und Glauben des Kollektivs bestimmt (wobei Glauben hier nicht im religiösem Sinn gemeint ist). Wir müssen auf die Ausgewogenheit aller Individuen vertrauen, wenn wir die Welt verstehen – nein: erleben wollen. Dazu gehört aber auch die Widersprüchlichkeit uns unliebsamer Sichtweisen und/oder sogar Erkenntnissen.
Das alles ist verwirrend, beunruhigend und keineswegs soweit zufriedenstellend, dass wir in unserer Zeit damit wirklich erfüllte Existenzen leben könnten. Diese Vielfalt des Wissen, Vermutens, Überlieferns und Erforschens zuzulassen und sich der damit verbundenen Intuition zu öffnen, bedeutet einen Schritt in einer dunklen Kammer vorwärts zu wagen, ohne den Boden spüren zu können. Gleichzeitig kann der Schritt nur gelingen, wenn man den sicheren Griff loslässt. Wer mit Schiff fahren will, muss die Leinen los machen.
Fast 9 Knoten erreiche ich, gemessen über Grund.
Das Vertrauen, etwas zu verstehen, ohne es im Detail erklären können zu müssen, ist natürlich eine heikle Sache. Denn noch ist unsere Kommunikation auf klassische Argumentation aufgebaut, die aber, wir erleben es, bereits andauernd an ihre Grenzen stösst.
2030 UTC | N 26•15 | W 79•45,5
Die Noordam, ein Kreuzfahrtschiff der Holland America Line treibt in Warteposition an mir vorüber. Ich habe sie schon seit 3 Stunden am Radar, und sie ist nicht das einzige Schiff dieser Art, das auf Einlass in den engen Hafen von Miami wartet.
2220 UTC
Ich habe den Kurs etwas früher geändert und motorsegle jetzt mit knapp 9 Knoten nach Norden. Die Sonne beginnt unterzugehen.