Date: 9. Dezember 2021 um 00:11:34 GMT-5
Location: 29.48°N, 80.33°W
Die Oculina Bank
0010 UTC 26•46N 079•40W
Eine kleine Spaghetti Portion, die vorzüglich schmeckt. Der Mond ist ein bisschen heller als in den letzten Tagen. Der Schein der Zivilisation stört die Pracht am Firmament, selbst hier draußen, von wo aus man das Land bei Tag gar nicht sehen kann.
Es sieht so aus, würde die Nacht ruhig werden.Es ist mild, und ich begebe mich in die Kurzschlafphasen…
0130 UTC
Ich habe den Motor abgestellt und mache 9,5 Knoten, für einige Augenblicke zeigt das GPS sogar 10,1 Knoten! Die Energie , die dem Golfstrom innewohnt, muss immens sein. 250 Meilen nördlich von meiner Position tobt indes ein schwerer Sturm, wie ich den Wetternachrichten entnehme, verursacht von einer Kaltfront, die sehr rasch vom Festland kommend nach Nordost weiterzieht. Also – wie vorhergesagt – weg von mir. Das ist gut.
0820 UTC | 0320 LCL
Es sind die späten Stunden einer doch abermals durchwachsenen Nacht. Das Tiefdruckgebiet im Norden hat hier zu nordwestlichen Winden geführt, die zwar mit 3-4 Bft nicht übermäßig stark waren und sind, dafür aber Wellen gegen die Strömung aus Süden aufwerfen. Das mögen wir Segler gar nicht. Es rumpelt, als ob man mit einer Pferdekutsche über eine schlechten Feldweg führe.
Ich habe schon vor Stunden ein tiefes Reff ins Großsegel eingezogen, denn durch die große Geschwindigkeit nimmt der scheinbare Wind auf diesem Kurs natürlich auch stärker zu. Logbuchveteranen kennen die Physik des Segelns, die paradox anmutet: Wenn der wahre Wind 10 Knoten hat, und Du fährst mit 9 Knoten dagegen, addiert sich Dein Fahrtwind dazu und Du segelst in 19 Knoten. Dies ist der „scheinbare“ Wind, der die Bedingungen an Bord bestimmt. Je schneller Du segelst, desto mehr Wind hast Du aber auch, der Dich schneller segeln lässt! – Der scheinbare Wind ist also für die Wirklichkeit am Schiff zuständig. Ist das nicht schön?
Immer wieder muss ich dennoch den Motor dazu schalten, in den kleinen, aber ruppig steilen Wellen, die der Wind gegen die Strömung aufwirft, stampft sich die Europa fest. Wenn die Prognosen stimmen, sollte der Spuk allerdings bei Tagesanbruch vorbei sein.
1130 UTC | N 28•17 | W 079•49,5
Auf leisen Sohlen schleicht sich der Tag in die lange Nacht, ein weites Wetterleuchten noch. Wind und Wellen haben nachgelassen. Ich hoffe sehr, dass die Bewegung im Schiff im Laufe des Tages nachlässt. Der Wind soll bei geringen Geschwindigkeiten tagsüber über Nord nach Ost drehen und in der Nacht weiter auf Süd. Ob auch noch eine nützliche Prise Wind dabei ist? Solange die nächste Nacht nur ruhiger wird! 190 Seemeilen liegen noch vor mir.
1330 UTC
Spät kommen die ersten Sonnenstrahlen über die Wolkenbank, die sich jetzt im Osten verzieht. Sie sind warm und weich, das Radar zeigt im Umkreis von 16 Meilen keinen Kontakt, ich schlafe ein. Wie eine Decke umhüllt mich die milde Morgenluft. Der Wind nimmt ab, und langsam werden auch die Schläge gegen die Wellen weniger. Kaffee.
Die große Suppe
Nachts trug ich eine lange Hose und einen leichten Pulli. Dafür ist es jetzt zu warm. Ich wechsle und verräume die Kleidung. Einige der Pullover und T-Shirts sind Stücke von meinem Bruder. Eine große Traurigkeit überfällt mich. Vor dreieinhalb Jahren ist er im Alter von 59 Jahren verstorben. Ich lehne mich zurück und unwillkürlich kommen die Gedanken an all die anderen, die wir in letzter Zeit verloren haben. Mein Stiefvater im August, wenig später Stephan, so alt wie ich, mein Schwager Charly im Frühling, im Jahr davor die wunderbare Daniela, davor mein lieber Kollege Martin Stingl, alle mehr oder weniger in meinem Alter. Und natürlich vor einem Jahr Aba Lewit, wenngleich er allen Widrigkeiten zum Trotz ein hohes Alter erreichen durfte.
Jetzt, im Angesicht der atlantischen Morgensonne, wird mir erst bewusst, wie schwer diese Abschiede waren, ist man doch im Moment nur darauf bedacht, den Boden unter den Füßen nicht zu verlieren, zu funktionieren, abzuarbeiten. Ich erinnere mich, wie wir, seine Töchter und ich, die Wohnung meines Bruders räumten, nachdem sie acht Monate nicht zugänglich war, weil der Notar mit dem Abarbeiten der ohnehin wenigen Dinge so säumig gewesen war. Die Begräbnisse, erst für meinen Bruder, dann für meinen Stiefvater zu organisieren und auszurichten. Eine Beschäftigungstherapie, die vom Schmerz ablenkt.
Kurz nachdem mein Stiefvater verstorben war, war ich in das Haus meiner Eltern gefahren, um Strom und Wasser abzudrehen und den Postkasten zu leeren. Eugen hatte dieses alte Bauernhaus im Weinviertel mit seinen eigenen Händen in den 1970er Jahren hergerichtet und in der Folge immer wieder ein wenig erweitert oder umgebaut. Mit viel Liebe. Als ich an jenem Tag die Küche betrat, war nichts von dieser Energie mehr in dem Haus. Die Terrasse in den oberen Garten haben meine Eltern schon seit einigen Jahren nicht mehr benutzt. Ihr Radius war langsam immer enger geworden. Die Demenz und körperliche Gebrechen drückten die Welt woanders hin. Können Sommerstunden unter einem Nussbaum tatsächlich so unbeschwert sein, wie die Erinnerung sie mir zeigt?
Berge von Briefen, Theaterstücken und zahllose Fotos, von denen ich nun entscheiden soll, welche aufgehoben werden. Manche Personen auf den Bilder kenne ich nicht einmal. Zerrissene Familien, neu zusammengesetzt, Patchwork nannte man das, es war, glaube ich, modern. Wir waren glücklich und sowohl meine Mutter als auch mein Vater mit all den verschiednen Ehen lebten letzten Endes glücklich und erfüllt.
Aus der Familie meiner Mutter gibt es, soweit ich weiß, noch einen Cousin, den Sohn einer Schwester meiner Mutter, von dem ich aber nichts weiß. Und soweit ich das überblicke, ist der letzte männliche Nachfahre der Eder-Familie mein Neffe Felix. Vielleicht irre ich auch. Ich werde das Standesamt in Hermagor wieder mal behelligen, ob noch andere Nachkommen der insgesamt acht Kinder meines Urgroßvaters existieren. Und dann ist da noch das vollkommen ungeklärte Leben meines Großvaters in Paraguay, obwohl ich den Sterbeurkunden und allen Recherchen nach bezweifle, dass er in Villariccar Familie oder Nachkommen hatte.
Das Nachdenken soll den Schmerz lindern, die Ratio soll das Gefühl zügeln, allein es gelingt ihr nicht, hier draussen, wo kein E-Mail und kein Telefon zur Flucht vor Dir selbst hilft. Ein schwaches Signal am Radar erinnert mich, dass ich nicht allein bin.
1415 UTC | N 28•37,6 | W 079•51,8
Auf 300• peile ich einen anderen Segler in ca. 6nm Entfernung, der sich ebenfalls auf einem nördlichen Kurs befindet. Cape Canaveral liegt ca. 35 Meilen westlich. In den Navtex Nachrichten kommen immer wieder Hinweise, dass für diese Tage der Start einer Falcon X Rakete geplant ist. Vielleicht habe ich Glück und bekomme das mit?
In der Serie „Star Trek – Deep Space 9“ aus den späten 1990er Jahren kommen sogenannte „Formwandler“ vor, Wesen, die eigentlich flüssig sind und jede Form annehmen können. Sie leben in der „Großen Verbindung“, ein See auf einem ansonst sehr unwirtlich anmutenden Planeten. Wenn Besucher kommen, formt sich eines dieser Wesen aus der großen Suppe und spricht mit denen – wie sonst sollte das in einer TV Serie auch funktionieren? Die Autoren legen das aber so an, dass die Wesen auch dann untrennbar mit dem großen Ganzen verbunden sind, wenn sie die Suppe verlassen. Eine der Geschichten in der Serie erzählt von einem solchen Wesen, das versucht, sich dauerhaft aus der Verbindung zu lösen, wie es ihm gelingt, und er zugleich daran scheitert. Aus wieviel Flüssigkeit besteht der Mensch eigentlich?
Ein Rekord und meine Minestrone
1500 UTC | N 28•42 | W 079•52,4
Das ETMAL beträgt unglaubliche 190 Seemeilen. Das ist eine Rekordmarke, die wohl für lange Zeit unangetastet beleiben wird.
1820 UTC
Ich habe den Kurs geändert und steuere nun bereits etwas früher, als geplant, die Einfahrt nach Fernandina an. 120 Meilen noch. Den Golfstrom verlasse ich, der Effekt wird geringer, gute Fahrt mache ich allemal. Viel Wind ist auf den Vorhersagemodellen nicht mehr zu erkennen. Von Key West bis Fernandina werde ich also rund 70 Motorstunden gebraucht haben. Nach dem frühen Mittagessen habe ich ein paar Schlafeinheiten in der heissen Sonne nachgeholt. Nun sind einige Wolken aufgezogen, auch kleine Schauer seien möglich, meldet der Wetterbericht.
Dieser Tag war ein wilder Ritt auf der Achterbahn meines Innenlebens. Von Vielen und Vielem habe ich versucht Abschied zu nehmen. Loslassen werde ich die Erinnerungen nicht. Sie sind der Stoff für jene Träume, die die Zukunft bauen. So, hoffe ich, leben wir weiter, als Individuen verbunden zu einer großen: Minestrone! – Also in meinem Leben ist es eine Minestrone, welche Suppe Ihr kocht, ist Eure Sache.
Während ich den 80. Längengrad überquere, rollt die langen Wellen von der Atlantikseite her unter meinem Kiel durch, die das gottlob abgezogene Tiefdruckgebiet mit seinem Sturm nun weit weg verursacht. Die langen Wellen werden ruhiger. Ihnen steht keine starke Strömung entgegen. Langsamer, aber ungleich gelassener schluckt die Europa die Bewegungen. Delphine kreuzen meinen Weg, zwei große und wohl schon ältere Tiere, und eine lange Dämmerung beginnt leise.